Chinesische Mentalitäten
Im Rechts- und Wirtschaftsverkehr mit China ist viel von Mentalitätsunterschieden die Rede. Die Chinesen dächten anders als wir und hätten ein anderes Rechtsgefühl. Dann wird Konfuzius, neuerdings auch Sunzi, eine Art Clausewitz aus der Zeit der kämpfenden Reiche, mit Weisheiten zitiert wie: “Wer den Feind und sich selber kennt, wird in hundert Schlachten siegreich sein.” Oder: “Wenn der Feind stärker ist als du, gehe fort und kämpfe nicht!” Toll – aber der folgende Satz von Marc Aurel (VI, 6) enthält eine wirkliche Aussage: “Nicht dasselbe tun wie der Angreifer, ist die beste Art, sich zu wehren.”
Fast jede Aussage über chinesische Mentalität in den Chinaberatungsbüchern gilt für uns ebenso. Eigentlich jede altchinesische Sentenz findet sich mutatis mutandis auch in unserer Kultur. Peinlich ist nur, dass wir diese nicht mehr kennen. Wer Aussprüche des Konfuzius oder Sunzi mit solchen der Bibel, von Marc Aurel, Goethe usw. vergleicht, findet diese altchinesischen Weisheiten – mit Verlaub – eher etwas trivial.
Auch die Mentalitätsunterschiede erschließen sich kaum. Der Verfasser hat in den letzten beiden Jahren etwa 900 Studenten in China unterrichtet und versucht, anhand entschiedener Rechtsfälle ein eventuell abweichendes Rechtsgefühl der chinesischen Studenten festzustellen.
In China sei, so habe schon Konfuzius gefordert, die Achtung vor den Eltern höchste Pflicht. Besprochen wurde folgender Fall aus einer chinesischen Zeitung: V., wirtschaftlich gesichert, lebt als alter Mann im Altersheim; er hat keine Verwandten, nur seinen Sohn S., der ihn aber niemals besucht. V. erhebt Klage gegen S., dass S. ihn regelmäßig besuche. Ansprüche des V.?
Die Besuchspflicht, so die Studenten, sei eine moralische, aber keine Rechtspflicht. Mit Konfuzius habe das – trotz Nachhakens des Verfassers – nichts zu tun. So auch Richter und Anwälte, die der Verfasser befragte.
Der folgende Fall wurde konstruiert: A. ist Eigentümer eines Seegrundstücks. B. wohnt hangaufwärts und genießt die schöne Aussicht, weil er durch den Luftraum des A. schaut. A. verlangt dafür ein Entgelt. Zu Recht? Ergänzend der wirkliche englische Fall Anchor Brewhouse Developments v Berkeley House (1987): B. betreibt auf seinem Grundstück einen Baukran, welcher bei Betrieb über das Grundstück des Nachbarn N. schwingt. Kann N. eine “Überschwingungsrente” verlangen? Die Antwort setzt bestimmte Bewertungen über die Reichweite des Eigentums und der Angemessenheit der Rechtsdurchsetzung voraus. Dennoch hielten die Studenten den Anspruch des A. im ersten Fall für genauso abstrus wie deutsche Studenten; im Kranfall aber wurde ohne Diskussion ebenso wie vom High Court in London ein Anspruch bejaht.
BGHZ 92, 85 behandelt folgenden Fall: A. hat in jahrelanger Arbeit einen maßstabgetreuen Nachbau des Torpedobootes “Dachs” gefertigt. Sein Freund F. nimmt das Modell in die Hand und lässt es fallen. Die Reparaturkosten betragen DM 90 000; A. verlangt von F. Schadensersatz in dieser Höhe. Zu Recht? Die Lösung (Schadensersatz nur, wenn ein Marktpreis feststellbar ist) ergab sich rasch. Das chinesische Rechtsgefühl empfindet also auch in dieser eher schwierigen Entscheidung ebenso wie der BGH.
Verträge, so heißt es in Chinaberatungsbüchern, seien für Chinesen mentalitätsbedingt nicht so verbindlich wie für uns. Tatsächlich versuchen chinesische Geschäftspartner oft nachzukarten. Bei uns etwa nicht? Wenn die Kröte zu groß ist oder der Chef sich vertan hat, dann wird nicht nur nachgekartet, sondern ggf. auch die Brechstange an den Vertrag gelegt.
Es wird allen Ernstes behauptet: Verträge abzuschließen, habe in China keine Tradition. Ein chinesischer Student sagte zu dieser Stelle aus einem Chinaberatungsbuch: “Verträge sind doch mündlich gültig”. Eben! Verträge haben, so gesehen, auch bei uns keine Tradition, weil auch bei uns das meiste mündlich geht.
Noch ein Vorurteil: Ganz anders als der streitsüchtige Westler suche der Chinese mentalitätsbedingt, statt mittels einer streitigen Gerichtsentscheidung die gestörte Harmonie durch einen Vergleich wieder herzustellen. Unsinn! Auch bei uns geht man nur vor Gericht, wenn sonst nichts hilft, denn ein Prozess zerstört auch bei uns die fürs Geschäft nötige Harmonie. Diese triviale Einsicht müssen wir aber nicht mit einem Ausspruch von Goethe & Co belegen, das weiß man auch so! Wenn es heute Juristen auf der Welt gibt, deren Mentalität uns Europäer irritiert, dann wohl die US-amerikanischen.
Zur Vermeidung von Missverständnissen: Der Verfasser ehrt die chinesische Kultur. Wie schön ist etwa die Lyrik der Tang-Zeit! Wer von Konfuzius nichts lernt, disqualifiziert sich. Es mag auch “chinesische Mentalitäten” geben. Aber der deutschen Mentalität entspräche es, den Dingen auf den Grund zu gehen und die fremde mit der eigenen Kultur zu achten. Triviale Sprüche und schiefe Kulturvergleiche beschädigen die Achtung, welche Chinesen uns Deutschen noch entgegenbringen.
Professor Dr. Menno Aden, Essen