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BB 2020, I
Graf von Westphalen 

Das BVerfG-Urteil zu dem Staatsanleihekaufprogramm der EZB – eine robuste Kampfansage an den EuGH

Abbildung 1

Es ist wohl nur noch als eine harsche Kampfansage anzusehen, welche das Bundesverfassungsgericht in seinem aufsehenerregenden Urteil vom 5. Mai 2020 gegen den EuGH als Oberstes Unionsgericht geschleudert hat. Allein die Wortwahl ist erschreckend. Die Karlsruher Richter werfen nämlich ihren Luxemburger “Kollegen” nicht mehr, aber auch nicht weniger vor, als dass der EuGH seinen Rechtsprechungsauftrag nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 des Lissabon-Vertrages in einer Weise ausgelegt hat, “die nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist” (Ls 2 des Urteils).

Man muss nicht unbedingt schon über Jahrzehnte Urteile gelesen und auch studiert haben, um in der Lage zu sein, in den vom Verfassungsgericht benutzten Vokabeln eine – verbal betrachtet – nie gelesene, völlig unangemessene Richterschelte zu sehen. Das Wort von der “objektiven Willkür” grenzt ja in der Sache bereits an den Vorwurf einer vorsätzlichen Rechtsbeugung. Das ist – in diplomatischer Sprache ausgedrückt – eine “Ungezogenheit”, in der juristischen Terminologie wirft diese Aussage den EuGH-Richtern schlicht vor, das Einmaleins der Auslegung nicht zu beherrschen. Um das rechtlich zu Sagende zum Ausdruck zu bringen, wäre es sicherlich ausreichend gewesen, die angebliche Kompetenzüberschreitung des EuGH durchgängig als “erkennbar kompetenzwidrig” zu bezeichnen (so die PM des BVerfG vom 5.5.2020 und Rn. 113 des Urteils).

Daher ist nicht einmal verwunderlich, dass die so gescholtenen Richter des EuGH lapidar – aber hinreichend beleidigt – postwendend in einer Presseverlautbarung erklärt haben, dass allein und ausschließlich ihnen die Kompetenz zusteht, über Unionsrecht abschließend zu entscheiden. Den Obersten Gerichten der Mitgliedstaaten wird also kategorisch das Recht abgesprochen, bei der Interpretation des Unionsrechts im Rahmen der Ultra-vires-Lehre das letzte Wort haben zu dürfen. Die Lehre von der nach Art. 23 GG zu beurteilenden, je einzelnen und daher begrenzten Kompetenzzuweisung der Nationalstaaten an den “Staatenbund” der Europäischen Union ist danach im Blick auf eine etwaige Kompetenzüberschreitung der europäischen Organe oder Institutionen nur noch auf der Ebene des Unionsrechts zu prüfen und liegt in der alleinigen Kompetenz des EuGH.

Es ist politisch gesehen einleuchtend, dass die Regierungen in Polen, aber auch die in Ungarn über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai in Jubelstürme ausgebrochen sind. Immer haben ja beide Regierungen – aber eben nicht nur sie, wie man sich aus der immer noch ungelösten Flüchtlings- und Asylkrise erinnert – betont, dass ihnen “Brüssel” keine Vorschriften machen könne, weil ihr eigenes Verständnis vom nationalen Verfassungsrecht höherrangig sei, eben souverän. Besonders gravierend waren diese Einwände für die EU als Rechtsgemeinschaft, wenn sie Warschau im Rahmen der von der EU-Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren wegen der polnischen Justizreform vorbrachte. Doch die Kommission war viermal an dieser Front erfolgreich. Eine Verletzung des Rechtsstaatlichkeitsgebots des Lissabon-Vertrages stellten die Richter des EuGH jeweils fest – und Warschau gab bislang immer Fersengeld und fügte sich.

Die wohl kaum auszudenkende Frage zielt aber jetzt darauf, ob denn auch die EU-Kommission gegen das Urteil aus Karlsruhe ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anhängig macht. Die Politik drängt stark in diese Richtung; die Justizkommissarin Vera Jourova scheint wild entschlossen; die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigt sich sehr offen. Voraussetzung ist natürlich, dass sich die EZB, was sehr unwahrscheinlich scheint, gegen die “Auflage” aus Karlsruhe zur Wehr setzt und sich weigert, innerhalb der gesetzten Frist von drei Monaten Rechenschaft darüber dem Karlsruher Gericht zu geben, bei der Beschlussfassung über das Anleihekaufprogramm auch die – negativen – wirtschaftlichen Auswirkungen in einer auf dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aufbauenden Analyse berücksichtigt zu haben. Ob die EZB hier wirklich “liefert” – darauf sollte keiner eine Wette abgeben.

Wenn aber im Ergebnis das Karlsruher Gericht folgerichtig der Bundesbank die Teilnahme an Anleihekaufprogrammen der EZB künftig verbietet, dann könnte es, wie Wolfgang Schäuble mit guten Gründen argwöhnt, auch dem Euro an den Kragen gehen. Das deutsche Präsidiumsmitglied in der EZB, Isabel Schnabel, gab sich allerdings unbeeindruckt: Nur der EuGH sei zur Judizierung über Maßnahmen der EZB zuständig; das Wertpapierkaufprogramm werde daher auch fortgesetzt. Zieht man jedoch die Perspektiven des Karlsruher Urteils aus, dann kann es kaum einen Zweifel geben, dass ein weiterer, auf dem jetzigen Urteil aufbauender Urteilsspruch aus Karlsruhe auch dem neuen, durch die Corona-Krise aufgelegten Anleihekaufprogramm der EZB in Höhe von satten 750 Milliarden Euro den Garaus machen dürfte. Kläger werden sich leicht finden. Art. 38 Abs. 1 GG und das dort verankerte Demokratieprinzip hilft ja jeder gut begründeten Verfassungsbeschwerde auf die Position des Klägers. Doch dieses Programm ist dringlich: Alle Staaten sehen im Augenblick – und dies wohl für reichlich lange Frist – in den Abgrund. Es geht daher der EZB vorrangig um die Wiederbelebung ihrer Wirtschaft und auch eben der Refinanzierung der jetzt neu aufgenommenen Staatsschulden zu erträglichen Konditionen. Aber Karlsruhe dürfte auch hier wohl den Spielverderber abgeben, auch wenn Präsident Voßkuhle mündlich erklärt hat, die jetzige Entscheidung sei nicht im Zusammenhang mit den Anleihekäufen der EZB zur Bekämpfung der Corona-Krise zu sehen.

Fazit: Das Verfassungsgerichtsurteil vom 5. Mai 2020 hat – rein politisch gewertet – einen verheerenden Flurschaden angerichtet. Dieser ist in seinen Auswirkungen für Europa genauso schwer abzuschätzen wie ein Ende der Corona-Krise vorherzusehen ist.

Prof. Dr. Friedrich Graf von Westphalen, RA, seit 2004 Honorarprofessor der Universität Bielefeld. Mitglied des Herausgeberbeirats von ZIP, EWiR, Schriftleiter der IWRZ sowie im Beirat des BB.

 
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