Rechtssicherheit und Kohärenz im deutschen und europäischen Lebensmittelrecht
Prof. Dr. Friedhelm Hufen, Mainz
Am 8. und 9. März 2001 traf sich in Wiesbaden der 14. Deutsche Lebensmittelrechtstag. Dort wurde vor allem der neue Vorschlag der Kommission für eine „Verordnung zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze des Lebensmittelrechts“ erörtert. Die Veranstaltung stand unter dem Thema „Rechtssicherheit und Kohärenz im Lebensmittelrecht“. In ZLR 2/2001 und ZLR 3/2001 werden Vorträge veröffentlicht, die auf der Tagung gehalten wurden. Den Themenaufriß, mit dem Prof. Dr. Hufen den Lebensmittelrechtstag eröffnete, stellt die Redaktion diesem Haft als Editorial voran.
Wie in einem Brennspiegel zeigen Vorbereitung und Durchführung des 14. Deutschen Lebensmittelrechtstages das Dilemma, in dem sich das Lebensmittelrecht selbst seit langem befindet: Mit der Wahl des Themas wollten wir deutlich machen, wie groß der Bedarf an grundlegender und stetiger Entwicklung dieses wichtigen Rechtsgebiets ist. Rechtssicherheit und Kohärenz können sich auch in der Praxis nur entwickeln, wenn die theoretische und wissenschaftliche Diskussion den Atem hat, um das Rechtsgebiet stetig und von den Grundlagen her fortzuentwickeln und nicht buchstäblich atemlos hinter immer neuen Krisen und Skandalen herläuft. Dabei kann das Lebensmittelrecht nicht isoliert gesehen werden. Kohärenz – man kann es auch einfach mit „Stimmigkeit“ übersetzen – kann sich nur einstellen, wenn die längst vorhandenen Grundlagen der „allgemeinen Teile“ des Europarechts, des Verwaltungsrechts und auch des Strafrechts für das Spezialgebiet Lebensmittelrecht fruchtbar gemacht werden. Außerdem besteht nach einer Zeit der recht konturenlosen Nebeneinanderentwicklung und wechselseitiger Überlagerung des deutschen und des europäischen Lebensmittelrechts Bedarf an grundlegender Kodifikation.
Für beides schien uns das Weißbuch der EU-Kommission vom Januar 2000 eine große Chance zu bieten. So wollten wir uns nach einem Jahr fragen, ob und in wieweit dieses Instrument den hochgesteckten Erwartungen Rechnung trägt: Was bringt das Weißbuch wirklich? Kann es zum Drehbuch einer solchen Entwicklung hin zu mehr Kohärenz und Stetigkeit werden?
Jeder weiß, was die Entwicklung dann gebracht hat. Das Jahr wurde geradezu zum Symbol der „Krisenhängigkeit“ und „Skandalorientierung“ im Lebensmittelrecht. Die Stichworte lauten BSE, dann Schweinemastskandal und nun auch noch MKS: Sie alarmieren die gesamte Lebensmittelwirtschaft, die Lebensmittelüberwachung und die Verbraucher in einem Maße, das auch die Wissenschaft und eine Veranstal¬
Gleichwohl haben wir uns entschlossen, der „Krisenhängigkeit“ nicht nachzugeben und das Thema nicht kurzfristig zu ändern. Und das – wie ich meine – aus gutem (nicht nur organisatorischen) Grund. Die Krise und die Krisenbewältigung werden gewiß in der Podiumsdiskussion und der schon traditionsreichen „aktuellen Stunde“ zu ihrem Recht kommen und auch den aktuellen Bezugspunkt der Referate zu den allgemeinen Themen bilden. Daneben aber können und wollen wir den „Auftrag zur Grundsätzlichkeit“ nicht vergessen, und das nicht trotz, sondern gerade wegen der Krise.
Zeigt nicht gerade die Entwicklung der vergangenen Monate, wie groß der Bedarf nach Rechtssicherheit und Kohärenz ist? Sind es zum Beispiel nicht gerade die grundsätzlichen und einfachen Regeln des Verfahrensrechts und des Polizeirechts, die vor Warnungen an die Öffentlichkeit und Stigmatisierung von Unternehmen beachtet werden müssen? Was bedeuten Subsidiarität und kooperativer Föderalimus im Bundesstaat und zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union gerade bei der Krisenbewältigung? Wie ist das Spannungsverhältnis von Übermaßverbot und Untermaßverbot bei der Durchsetzung des Verbraucherschutzes auszuloten?
„Planung ist die Tochter der Krise“ – so lautete in der Planungsdiskussion der 70er Jahre ein geflügeltes Wort. Heute möchte man diesen Satz fast umdrehen: „Die Krise ist die Tochter mangelnder Planung“ und vor allem mangelnder Kohärenz – immerhin einem „Verfassungsziel“ der europäischen Union.
So sind es gerade die Grundlagenthemen, die sich bei aktuellen Problemen mit Dringlichkeit Gehör verschaffen. Erinnern wir uns an das von nicht wenigen belächelte Thema des Lebensmittelrechtstages von 1999: „Ethische Grundlagen des Lebensmittelrechts“. Jeder der damals teilnahm, wird sich fundierter an der Debatte um die Nachhaltigkeit der Lebensmittelpolitik, um Kehrtwendungen, Massenschlachtungen zur Marktbereinigung und Tiertransporte über weite Entfernungen beteiligen können. Der Ertrag ist vielleicht nicht so unmittelbar komsumierbar wie im letzten Jahr das Thema „neue Lebensmittel“, aber er wirkt dafür auch nachhaltig.
Die Wissenschaftliche Gesellschaft für Lebensmittelrecht und der Lebensmittelrechtstag werden sich also auch in Zukunft Grundlagenthemen zu widmen. Für den 15. Deutschen Lebensmittelrechtstag am 21./22. März 2002 haben wir uns ein Thema vorgenommen das wohl ebenso grundsätzliche wie konkrete Fragen aufwirft: „Kehrtwende in der Lebensmittelpolitik – Kehrtwende im Lebensmittelrecht?“
Nun aber auch in schwierigen Zeiten mit Überzeugung zum Thema: „Rechtssicherheit und Kohärenz“. Nach dem Weißbuch gibt es inzwischen einen Verordnungsentwurf der Kommission. Die Wahl der Form einer unmittelbar geltenden Verordnung überrascht dabei. Unmittelbare Geltung mag auf den ersten Blick Kohärenz verheißen, birgt aber auch Gefahren, weil hier bewährte Strukturen aufgelöst werden. „Was wird aus dem LMBG?“. Diese Frage von Rudolf Streinz (ZLR 2000, 803) stellen wir ja nicht nur deshalb mit Nachdruck, weil wir von der inneren Stringenz des deutschen Gesetzes so sehr überzeugt sind. Tritt das deutsche Gesetz aber unmittelbar gegenüber der europäischen Verordnung zurück, so ist nur dann mehr Rechtssicherheit und Kohärenz zu gewinnen, wenn die europäische Norm ihrerseits in sich stimmig und hinreichend klar ist. Das ist aber bei einem notgedrungenen Kompromiß zwischen 16 Teilrechtsordnungen eher nicht zu erwarten, sodass ich meine Zweifel habe, ob nicht eine Richtlinie mit behutsamer An- und Einpassung die bessere Lösung wäre.
Jedenfalls: Ein erster Versuch des „Drehbuchs“ der Entwicklung europäischen Lebensmittelrechts liegt vor. Die in den beiden kommenden Heften der ZLR (2/2001 – dieses Heft – und 3/2001) veröffentlichen Beiträge der Referenten des 14. Deutschen Lebensmittelrechtstages – samt und sonders hochrangige Praktiker und erstklassige Europarechtler – werden darüber Aufschluß geben, ob wir mehr oder weniger Rechtssicherheit und Kohärenz erwarten dürfen.