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ZLR 2006, 361
Mettke 

Die Allerklügsten

„In Vielfalt geeint“ so lautet nach Art. I – 8 des Europäischen Verfassungsentwurfs der Leitspruch der Union. Das Europäische Parlament und der Rat haben diese Wegweisung bei der Verordnung über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben offensichtlich mißverstanden. Geschaffen wurde ein bürokratisches Ungeheuer, das selbst in der an überflüssigen Vorschriften nicht armen Lebensmittelgesetzgebung seinesgleichen sucht. Nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben sollen künftig nur noch möglich sein, wenn ein endloses System von Allgemeinen Grundsätzen und Bedingungen, Besonderen und Speziellen Bedingungen, Beschränkungen und Notifizierungsverfahren, Gemeinschaftszulassungen und Einzelzulassung eingehalten werden, als ginge es um technische Anlagen für Atomkraftwerke. An diesem Spiel dürfen sich die Mitgliedstaaten und die Kommission mit einer Vielzahl von Unterbehörden beteiligen. Schiedsrichter ist die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz. Welch ein Aufwand, um die Verbraucher – und nur das kann das legitime Ziel sein – vor Täuschung und Irreführung zu schützen.

Gesundheitsbezogene Angaben sollen nur dann zulässig sein, wenn sie sich auf allgemein akzeptierte wissenschaftliche Erkenntnisse stützen und durch diese abgesichert sind. Da Lebensmittel für die Gesundheit immer relevant sind, kann jede Aussage unter die Health Claims-Verordnung fallen. Leider kann niemand sagen, was Gesundheit wirklich bedeutet. Die WHO definiert Gesundheit als Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Eine Utopie also, die wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügen kann. Der Historiker Reinhard hat dazu in „Lebensformen Europas“ geschrieben: „Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit: Man kann Gesundheit und Krankheit definieren, steht aber dabei einer solchen Begriffsvielfalt gegenüber, daß derartige Definitionen nie wahr oder falsch, sondern höchstens brauchbar oder unbrauchbar sein können. Aber was ist normal und was berechtigt uns, einen Durchschnittsbefund von Normalität ‚zur Norm zu erheben‘?“ Einfacher drückt es Eugen Roth aus:

„Gesunde quält oft der Gedanke

wohin sie schauen lauter Kranke

doch blickt ein Kranker in die Runde

sieht er nur unverschämt Gesunde.“

Zugegebenermaßen steht die Lebensmittelgesetzgebung zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor einer neuen Herausforderung wie sie frühere Zeiten nicht kannten. Die richtige Ernährung verbunden mit der Angst vor Krankheit, der man durch Vorsorge und rechtzeitige Risikoerkennung zu begegnen versucht, hat religiöse Züge angenommen. Die Jahrtausende alte Schlacht um die Verjüngung, um das Anhalten der Zeit, die ZLR 2006 S. 361 (362)Bemühungen, ihren Verlauf umzukehren, oder wenigstens das Leben zu verlängern, erinnern an die alchimistischen Forschungen nach der Entdeckung eines Elixiers der Langlebigkeit. So sind vorbeugender Verbraucherschutz, Vorsorgeprinzip, Risikovorsorge auf der einen Seite, Wellness-Produkte aller Art, Functional Food und Nahrungsergänzungsmittel wie kommunizierende Röhren aufeinander angewiesen. Daß die Lebensmittelgesetzgebung darauf reagieren muß, ist legitim. Dies aber kann nicht gleichermaßen für die klassische Gesundheitswerbung bei Lebensmitteln dienen, die nicht ein sorgenfreies Morgen, sondern Genuß, Zufriedenheit und Wohlbefinden für den Tag versprechen.

Man hat übersehen, daß die weitgehend lebensmitteltechnisch und damit naturwissenschaftlich geprägte Ernährungsforschung ausnahmslos nach einer materiellen Optimierung der körperlichen Nahrungszufuhr ausgerichtet ist. Aber es gibt eben auch eine kulturelle Dimension und Anschauungen, die seit langer Zeit bestehen und als tragender Pfeiler der Kultur zu betrachten sind und von Generation zu Generation überliefert werden. Die Beschränkung aller gesundheitsbezogenen Angaben nach ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten wird der Lebensmittelwirklichkeit nicht gerecht. Wohin das führen kann, zeigt die Stellungnahme der Kommission vom 1. Oktober 2003 „Mythen und Mißverständnisse“. Zu der Aussage „Obst ist gesund“ hat sie folgendes ausgeführt:

„Angaben wie ‚Obst ist gesund‘ werden nicht verboten, doch die Verordnung schreibt vor, daß die Vorteile für die Ernährung und/oder Gesundheit entsprechend erläutert werden. Für den Verbraucher ist die Erklärung, warum Obst gesund ist, informativer als eine allgemeine Behauptung, die dies als Tatsache hinstellt.“

Welch ein Unsinn! Natürlich ist Obst nicht an sich gesund. Wollte man sich dieser Mühe unterziehen, müßte man schon auf die einzelnen Früchte besonders eingehen. Obst ist ein Gattungsbegriff, unter den die unterschiedlichsten Produkte fallen. Ob Obst an sich gesund ist, kann allgemein nicht beantwortet werden. Der bekannte Slogan lautet in seiner vollkommenen Form auch anders, er heißt „Eßt frisches Obst und ihr bleibt gesund“. Er bezieht sich also auf die Frische, nicht auf die Gesundheitswirkung. Frisches Obst und Gemüse galten nämlich noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs als gesund. Vielmehr galt der Grundsatz, daß gesund nur alles gekochte sein könne, nach dem Motto: „Nur Tiere verzehren ungekochte Speisen“. Die Ernährung mit frischem Obst und Gemüse wurde nunmehr besonders propagiert. Dies aber zeigt, daß jede Gesundheitswerbung nicht nur vom ernährungswissenschaftlichen Standpunkt her zu verstehen ist, vielmehr auch auf sozialen und kulturellen Fundamenten beruht.

Was soll aus der Werbung für die Bio-Lebensmittel werden? Sie erfüllen die Wünsche vieler Menschen nach einer gesunden und naturgemäßen Lebensweise und so werden diese Produkte auch beworben. Wissenschaftlich begründen kann man dies nicht. Im ZLR 2006 S. 361 (363)Gegenteil, nach der Öko-Verordnung dürfen Etikett und Werbung für diese Produkte keine Hinweise enthalten, die den Eindruck erwecken, daß die Bioeigenschaft eine Garantie für besseren Geschmack und Nährwert oder bessere Gesundheitsverträglichkeit darstellt. Über diese Beschränkungen hat sich die Gesellschaft hinweggesetzt und auch die Lebensmittelüberwachung hat darauf nicht reagiert. Der amerikanische Schriftsteller Thosean hat in seinem Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ gesagt: „Natur ist nur ein anderes Wort für Gesundheit“. So sehen es vor allen Dingen auch die Städter, die Lebensmittelwirtschaft macht sich diese Sehnsucht in der Werbung zu eigen. Was aber soll daran falsch sein und was soll hierbei wissenschaftlich abgesichert werden? Es gibt weitere Beispiele. Die Überlegung, alle gesundheitsbezogenen Angaben zwischen Helsinki und Palermo, zwischen Riga und Lissabon in einem Gemeinschaftsregister zu erfassen, ist nicht nur ein weites Feld, sondern ein Faß ohne Boden. Es ist eine pseudowissenschaftliche Anmaßung.

Die Health Claims-Verordnung erinnert mich an eine Geschichte in dem Kinderbuch „Hops, Fips und Taps“ von Enid Blyton. Drei Kinder kommen in das Land der Klugen. Jeden Tag erhalten sie Prügel, weil sie die Rätsel des Allerklügsten nicht beantworten können, bis offenbar wird, daß auch der Allerklügste die Antworten nicht weiß. Und so wird es auch mit der Prüfung aller gesundheitsbezogenen Angaben in der Europäischen Union und den zugrunde liegenden Nährwertprofilen enden.

Rechtsanwalt Thomas Mettke, München

 
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