Chinas neues Unternehmensbewertungssystem – dringender Handlungsbedarf für deutsche Unternehmen
Die Volksrepublik China hat im Jahr 2014 die Einführung eines datengestützten “Social Credit System” (SCS) bis 2020 angekündigt. Die letzte Testphase hat im September 2019 begonnen. Im Fokus der Berichterstattung in den westlichen Ländern stand bislang fast ausschließlich die Überwachung von Privatpersonen durch die Regierung. Dabei geriet aus dem Blickfeld, dass von vornherein geplant war, Unternehmen und deren Führungspersonal einzubeziehen. Dabei ist eine tiefgreifende Reform des Marktzugangs gewollt. Im Kern geht es um ein für alle Marktteilnehmer verpflichtendes, umfassendes Bewertungssystem.
Ausgangspunkt der Überlegungen des chinesischen Gesetzgebers waren gesellschaftliche Missstände. Kaum jemand hielt sich an die Gesetze, Fehlverhalten war weitgehend sanktionslos möglich. Im Rahmen des SCS kann die chinesische Regierung nun die fortschrittlichsten Technologien zur Überwachung und Steuerung von Marktteilnehmern einsetzen. Ziel ist die effektive Nutzung aller bekannten Daten über das Verhalten von Unternehmen und Einzelpersonen. Unternehmen, die bereits in China aktiv sind, müssen eine Vielzahl an Anforderungen erfüllen, um ein positives Rating zu erhalten und zu behalten. Eine Möglichkeit, sich der Bewertung zu entziehen, besteht nicht. Neben dem Verbot von Geschäftsaktivitäten drohen Sanktionen wie schlechtere Kreditbedingungen, höhere Steuern und Zölle sowie ein erschwerter Zugang zu öffentlichen Aufträgen. Transparente und belastbare Kriterien hinsichtlich der Punktevergabe und damit auch hinsichtlich der Verbesserung eines schlechten Ratings bestehen zwar in vielen Einzelgebieten, noch fehlt jedoch ein Gesamtrahmen. Schon jetzt steht allerdings fest, dass es ein System der Gesamtbewertung geben wird, d. h. eine schlechte Bewertung in einem Teilbereich beeinträchtigt zwingend die Gesamtbewertung. Sogar das persönliche Fehlverhalten eines verantwortlichen Unternehmensrepräsentanten kann solche Folgen zeitigen. Verstöße von Privatpersonen in exponierter Stellung können somit negative Auswirkungen auf das Punktekonto des Unternehmens entfalten. Schulungen entsandter Mitarbeiter werden künftig daher eine viel größere Bedeutung haben als bisher.
Bemerkenswert ist auch, dass negative Bewertungen von Geschäftspartnern Teil der eigenen Unternehmensbewertung sein sollen. Dies zwingt Unternehmen dazu, Geschäftspartner (fortlaufend) zu zertifizieren – eine weitere schwierige Aufgabe für das Führungspersonal. Insofern sollten zukünftig mit schlecht bewerteten Unternehmen keine Geschäfte mehr betrieben werden.
Mit Blick auf deutsche Unternehmen, die sich in der Volksrepublik engagieren, bereitet insbesondere die teilweise fehlende Transparenz des Punktesystems Sorgen. Bei der jüngsten Umfrage der deutschen Auslandshandelskammer unter ihren Mitgliedern in China zeigte sich, dass ein Jahr vor der geplanten vollständigen Einführung des Bewertungssystems fast sieben von zehn Unternehmen, d. h. nahezu 75 %, mit dem Scoringsystem, seiner Funktionsweise und seinen Zielen im geschäftlichen Kontext nicht vertraut sind.
Ungeachtet der Unkenntnis des SCS ist erkennbar, dass wesentliche Parameter intransparent sind. Es fehlen umfangreiche Informationen über die Funktionalität des Systems und seiner Prozesse im Allgemeinen. Unternehmen werden zwar über ein schlechtes Ranking in Kenntnis gesetzt, allerdings besteht keine Transparenz hinsichtlich der Gründe für die schlechte Bewertung oder gar für Maßnahmen und Rechtsmittel zur Verbesserung des Punktekontos. Bekannt ist allerdings bereits, dass ein schlechtes Rating langfristig nachwirkt und allenfalls fehlerhafte Eintragungen kurzfristig zu korrigieren sind. Die Anbindung an ein streng datenbasiertes System bedeutet auch, dass der Spielraum für Ermessensentscheidungen und Verhandlungen mit Behörden erheblich eingeschränkt werden wird (dies ist auch eines der Ziele des Systems).
Die Intransparenz des SCS ist in Teilen durchaus gewollt. Dies hilft dem Staat, in der Industriepolitik einen weiten Ermessensspielraum zu nutzen. Hinzu kommt die in China traditionell politische Interpretation von unbestimmten Rechtsbegriffen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass es zu einer Konkretisierung kommt. Eine abschließende Bewertung des Systems ist sicher noch nicht möglich, jedoch steht fest, dass Unternehmen mit geschäftlichen Beziehungen zu China vor einem Paradigmenwechsel stehen.
Während die Auswirkungen des SCS im Detail noch beobachtet werden müssen, dürfte das chinesische Modell sicherlich für andere Staaten von Interesse sein, die autoritär strukturiert sind. Es ist sogar ein erklärtes Ziel der chinesischen Regierung, das SCS international zu bewerben und zu nutzen. Die fortschreitende Digitalisierung und Vernetzung von Behörden schaffen jedenfalls die technologische Grundlage für eine Nutzung weit über die Grenzen Chinas hinaus. Für deutsche Investoren mit chinesischen Geschäftsinteressen hat dies zur Folge, dass die Compliance-Anforderungen deutlich ansteigen werden und selbst das Verhalten in anderen Regionen der Welt Auswirkungen in China haben kann. Es ist daher für deutsche Unternehmen und deren Management ungeachtet der Frage, ob das System wie gewünscht ein Exportschlager wird, dringend geboten, sich mit dem System vertraut zu machen und die Anforderungen nicht zu ignorieren.
Dr. Constantin Frank-Fahle, LL.M., Rechtsanwalt/Legal Consultant, Dubai, und Roland Falder, Rechtsanwalt, München