Die ideale Compliance-Welt
Die Moralisierung des Rechts ist im Aufwind.
Die ideale Compliance-Welt findet man in China! Todesstrafe bei Korruption und ein Überwachungssystem, das den folgsamen Bürger belohnt. Nach dem Social Credit System, das 2020 eingeführt werden soll, wird das Verhalten eines jeden Bürgers bewertet. Kleine Verfehlungen werden nicht mit überzogenen Gefängnisstrafen, sondern mit einem Bürgerwert bestraft – gutes Verhalten belohnt. Zu schnelles Autofahren, bei Rot über die Ampel gehen, zu hohe Schulden, das gibt ein schlechtes Scoring mit der Folge, dass man sich keine Flugtickets kaufen kann, keinen Kredit erhält und Ärger mit den Behörden hat. Gut ist, wer sich regelkonform verhält, Biogemüse kauft und seine Rechnung pünktlich bezahlt. Mit einem hohen Bürger-Rating erhält man günstige Kredite, Vorteile bei der Wohnungsvergabe, Studienplätze für das Kind und eine günstigere Krankenversicherung. Das alles wird durch eine umfassende Überwachung per Kamera, Gesichtserkennung und Auswertung der Internetaktivitäten objektiv erkannt und festgestellt.
Ein nachhaltiges und ergebnisorientiertes Sanktionssystem ohne die Kosten und Mühen eines Prozesses. Der Traum eines jeden Compliance-Officers – so stellt man sich die perfekte Compliance-Welt vor!
Auch in Deutschland haben wir wichtige erste Schritte in diese Richtung erreicht. Wurde zunächst die erste Initiative zum gesetzlich vorgegebenen richtigen Essen noch verlacht (sog. Veggie-Day), geht es nun forsch voran. Derzeit müssen in vielen Fällen noch die Medien und die Öffentlichkeit bemüht werden, um missliebige Personen ohne einen Prozess nachhaltig zu verurteilen und lebenslange Ächtung auszusprechen. Doch der Gesetzgeber schafft hierzu schon professionelle Strukturen. Die Übertragung von staatlichen Kontroll-, Überwachungs- und Sanktionsaufgaben auf den zu kontrollierenden, überwachenden und sanktionierenden Bürger sind kluge erste Schritte in die Welt des Bürger-Scorings. Angefangen mit der Selbstzensur in Gestalt des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes geht es weiter mit umfassenden Rechten und Pflichten des Datenschutzbeauftragten, Verdachtsmeldungen bei Geldwäsche und der Selbstanzeigepflicht bei grenzüberschreitenden Steuergestaltungen. Auch sehr gut ist die Idee, bei Compliance-Verstößen eine Pflicht zur Durchführung von internen Ermittlungen zu schaffen, um dann die Untersuchungsergebnisse des Unternehmens von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmen zu können. Gekrönt wird dies durch den jüngsten Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen (GeschGehG). Dort wird die Offenlegung von Geschäftsgeheimnissen durch Hinweisgeber nicht nur bei der Verletzung wesentlicher Rechte geschützt, sondern auch bei “Aufdeckung […] eines anderen Fehlverhaltens”. In der Gesetzesbegründung wird dieses als “unethisches Verhalten” konkretisiert, das nicht notwendigerweise gegen Rechtsvorschriften verstoßen muss. Das gelobte Land ist in Sicht!
Achtung, das war Ironie. Dabei kann einem das Lachen im Halse stecken bleiben. Viele widersprüchliche Tendenzen sind derzeit zu bestaunen, das Verständnis für die Grundstrukturen und Vorzüge eines Rechtsstaates scheint zu schwinden. Die Moralisierung des Rechts, die Individualisierung des Rechts, das göttliche Recht und der Rechtspositivismus sind im Aufwind, zugleich wird die folgenschwere Überlastung des Justizapparates spürbar.
Was bedeutet das alles für den Bereich-Compliance? In der kleinen aber wichtigen Compliance-Welt darf nicht vergessen werden, dass konsequente Regeln und Sanktionen zur Verhinderung von Gesetzesverstößen und Missbrauch gut und richtig sind. Komplexe unternehmerische Strukturen fordern eine komplexere Compliance-Architektur. Dabei dürfen aber der gesunde Menschenverstand und die Verantwortung des Einzelnen nicht vergessen werden. Denn je komplexer Compliance-Strukturen sind, desto größer ist die Gefahr, dass der Einzelne seine Verantwortung an diese Strukturen abgibt. Aktuelle Fälle aus der Welt der Großkonzerne sind warnende Beispiele. Bei allem Streben nach Redlichkeit im Geschäftsverkehr darf nicht übersehen werden, welch hohes Gut Rechtsstaatlichkeit ist und was dies im Tagesgeschäft wirklich bedeutet. Nicht nur der einzelne Bürger und Unternehmen haben dies zu beachten, auch staatliche Institutionen, die Legislative und die Exekutive dürfen das manchmal etwas lästige Gefüge der Rechtsstaatlichkeit nicht unterschätzen. Es darf nicht vergessen werden, dass jeder Mitarbeiter, jeder Compliance-Beauftragte, jeder Unternehmer und jeder Rechtsanwender auch Bürger und für die Gestaltung unseres Landes verantwortlich ist.
In diesem Sinne darf ich Sie als neuer Chefredakteur des Compliance-Beraters zu einer angeregten und kontroversen Diskussion, auch zu grundlegenden Compliance-Fragen, aufrufen. Ich freue mich auf Ihre Beiträge, schreiben Sie mir! (Zuschriften an: christina.kahlen-pappas@dfv.de)
Dr. Malte Passarge ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht in der Kanzlei Passarge, Prudentino & Rhein PartGmbB – Studio Legale sowie Vorstand des Instituts für Compliance im Mittelstand (ICM) und Geschäftsführer von Pro Honore e. V.