Was Nachhaltigkeitsberichterstattung in Europa und das Wettrennen zum Mond gemein haben
Die europäische Legislative läuft Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und alle Prozessbeteiligten vollends zu überfordern.
Am 21.7.1969 setzte Neil Armstrong als erster Mensch einen Fuß auf den Erdtrabanten. Zuvor hatten sich die USA und die damalige UdSSR über annähernd zwei Jahrzehnte ein Wettrennen geliefert: Wer schafft es als Erster, einen Flugkörper in eine Umlaufbahn um die Erde zu bringen? Wer bringt den ersten Menschen ins All und heil wieder zurück auf die Erde? Und wer schafft die Reise zum Mond als erste Nation? Und fragt man nach den Beweggründen, warum das “Erster sein” so elementar wichtig ist, dann bekommt man damals wie heute die gleiche Antwort: “Weil wir die Fortgeschrittensten sind und Erster sein wollen.” Aha.
Seit etwa einem Dreivierteljahr bekommen wir dieses Mantra nun auch bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung in Europa zu hören. Rückblende: Die Europäische Kommission hatte im Jahr 2014 – als erster Rechtskreis – eine verpflichtende Berichterstattung über nichtfinanzielle Sachverhalte für bestimmte Unternehmen des öffentlichen Interesses eingeführt. Ende 2019 hat sie in ihrem Green Deal zur Begrünung der europäischen Wirtschaft die Devise ausgegeben, dass sie – wiederum als erster Rechtskreis – ein Klimaziel vorgeben und die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens in das Zentrum ihrer Politik stellen will. Dies erfordert eine Unmenge an finanziellen Mitteln, zu deren Aufbringung die öffentliche Hand nicht imstande ist. Also muss es der Kapitalmarkt richten und die zur Transformation benötigten Gelder beisteuern.
Damit er das tut, wird er mit der “Karotte” eines schier unendlichen Stroms an Nachhaltigkeitsinformationen gelockt. Nur hat irgendjemand vergessen, ebendiese Kapitalmarktteilnehmer einmal zu fragen, welche Informationen sie für ihre Allokationsentscheidungen eigentlich benötigen und welche nicht. Ist ja auch lästig, da könnte ja jeder mit seinen eigenen Vorstellungen kommen. Viel einfacher ist es, sich an den Brüsseler Schreibtisch zu setzen und selbst zu raten, was der Kapitalmarkt denn so benötigen könnte, nein: benötigen können müsste! Alle Nachhaltigkeitsaspekte umfassend. Alles gleich elektronisch, versteht sich. Vom Wirtschaftsprüfer geprüft, geht klar! Und das Beste: Schon ab 2023 wird geliefert – wer könnte da widerstehen.
So unterstützenswert das übergeordnete politische Vorhaben ist – die europäische Legislative läuft Gefahr, über das Ziel hinauszuschießen und alle Prozessbeteiligten vollends zu überfordern: die Unternehmen, die unmöglich in so kurzer Zeit eine funktionstüchtige Kontroll- und Systemlandschaft aufsetzen können; die Abschlussprüfer, die jetzt einen Crashkurs in Nachhaltigkeitsberichterstattung machen müssen, und die Adressaten, die mit einem Zahlenwust beglückt werden, bei dem sich die Ausschüttung von Glückshormonen in Grenzen hält: Global tätige Kapitalsammelstellen wie Blackrock, State Street oder Vanguard wird ein rein europäisches Vorhaben nämlich nicht sonderlich beeindrucken. Sie werden weiterhin auf einen weltweit vergleichbaren Standard drängen . . . und aufgrund ihrer Marktmacht vermutlich auch durchsetzen können. Notfalls müssten europäische Unternehmen dann eben zwei Berichte erstellen. Wohlgemerkt: Erster sein kann auch einsam machen.
Die International-Financial-Reporting-Standards-(IFRS-)Stiftung hat, das Drängen der Investoren aufgreifend, den Vorschlag unterbreitet, einen weltweit gültigen Standardsatz mittels Konsolidierung der bestehenden Regelwerke zu erreichen und so zu besserer Vergleichbarkeit der relevanten Environmental-, Social- and Governance-(ESG-)Informationen beizutragen. Dazu soll der IASB eine Schwester bekommen, den International Sustainability Standards Board (ISSB). Der ISSB soll nach dem Vorbild des IASB aufgesetzt und auf die gleichen strengen Transparenz- und Governance-Anforderungen verpflichtet werden. Das Produkt soll in nachhaltigkeitsbezogenen Finanzinformationen bestehen, die den Kapitalmarktteilnehmern eine umfassende Einschätzung der Wertschöpfungskraft eines Unternehmens ermöglichen sollen. Dabei sollen auch externe Effekte berücksichtigt werden, die die künftige Wertschöpfung bspw. in Form von Käuferboykotten oder Rechtsklagen beeinflussen können.
Da die IFRS-Stiftung keine ausgewiesene fachliche Expertise auf dem Gebiet besitzt, stellt sie vorrangig auf ihren in der Finanzberichterstattung erworbenen Ruf als unabhängiger und der Transparenz verpflichteter Standardsetzer ab. Sie drängt sich nicht als neuer Spieler auf, sondern versucht vielmehr, als Makler eine Koalition der Willigen zu versammeln. Selbstverständlich können Rechtskreise, die mehr Erfahrung und größere Ambitionen auf dem Gebiet der Nachhaltigkeitsberichterstattung haben, über die Anforderungen der ISSB-Standards hinausgehen. Dieses komplementäre Vorgehen stellt eigentlich eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten dar: Die Investoren bekommen ihren globalen Standard und die Rechtskreise den Setzkasten, den sie nach Gusto weiter bestücken und verschönern können. Aber aus irgendeinem Grund will Europa weiter von sich sagen können, man sei als Erster am Ziel angekommen. Nützt das wem?
Prof. Dr. Andreas Barckow ist seit dem 1.7.2021 Chair des International Accounting Standards Board (IASB) in London und Honorarprofessor an der WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar. Der Beitrag stellt seine persönliche Meinung dar.