Paradigmenwechsel im Kartellrecht – Die 11. GWB-Novelle
Der neue Rechtsbegriff der “Wettbewerbsstörung”: Das Bundeskartellamt kann auch ohne Kartellrechtsverstoß in das Geschäft von Unternehmen eingreifen.
Nachdem der Bundesrat die 11. GWB-Novelle am 29.9.2023 gebilligt hat, wird diese voraussichtlich in Kürze in Kraft treten. Von Wirtschaftsminister Habeck als “größte Reform seit Ludwig Erhard” bezeichnet, markiert die ursprünglich als Reaktion auf die schleppende Weitergabe des Tankrabattes angestoßene Novelle in der Tat einen Paradigmenwechsel im deutschen Kartellrecht.
“Herzstück” der Novelle ist der neue § 32f GWB, der dem Bundeskartellamt ein völlig neues Eingriffsinstrumentarium im Anschluss an eine Sektoruntersuchung an die Hand gibt. Im Rahmen von Sektoruntersuchungen hat das Bundeskartellamt bisher nur prüfen können, ob der Wettbewerb in einem ganzen Sektor eingeschränkt ist – eine mühevolle und zeitaufwendige Arbeit. Konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbssituation waren nur dann möglich, wenn das Bundeskartellamt einzelnen Unternehmen einen konkreten Kartellrechtsverstoß nachweisen konnte. Dies wird sich nun ändern. Zukünftig kann das Bundeskartellamt nach Sektoruntersuchungen weitreichende Abhilfemaßnahmen festlegen, wenn es im Rahmen der Untersuchung eine “erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs” in der Branche festgestellt hat. Der neue Rechtsbegriff der “Wettbewerbsstörung”, der sich auf die Marktstruktur bezieht, ist nicht mit einem Kartellrechtsverstoß zu verwechseln, der an ein rechtswidriges Verhalten der Marktakteure anknüpft. Er soll vielmehr Situationen beschreiben, in denen der Wettbewerb aus anderen Gründen zum Erliegen gekommen ist, etwa aufgrund hoher Marktzutrittsschranken, regulatorischer Erfordernisse, gleichförmigen Verhaltens oder des (bloßen) Vorhandenseins von Unternehmen mit hoher Angebots- bzw. Nachfragemacht. Bisher galt: Was nicht verboten ist, ist zulässiges Wettbewerbsverhalten. Nun kann das Bundeskartellamt ohne Vorliegen eines Kartellrechtsverstoßes den auf dem “gestörten” Markt tätigen Unternehmen einschneidende verhaltensorientierte oder strukturelle Verpflichtungen auferlegen, um die Wettbewerbsstörung zu verringern. Als ultima ratio soll das Bundeskartellamt durch Verfügung auch die Entflechtung von marktbeherrschenden Unternehmen anordnen können, etwa indem bestimmte Tochtergesellschaften oder Geschäftsbereiche eines Unternehmens abgespalten werden müssen. Darin liegt ein Paradigmenwechsel: Unternehmensinternes Wachstum, Effizienz und wirtschaftlicher Erfolg im Leistungswettbewerb können künftig Anlass für Eingriffe sein, ohne dass ein persönlich vorwerfbarer Rechtsverstoß vorliegt. Dies kann rechtmäßiges internes Wachstum bestrafen und birgt die Gefahr, Unternehmen davon abzuhalten, Effizienz- und Innovationsziele umzusetzen. Hoffnung macht indes, dass bis zu einer Entflechtung aufgrund der gesetzlichen Fristen mindestens drei Jahre vergehen dürften und Rechtsmittel gegen die Abhilfemaßnahmen aufschiebende Wirkung haben. Für kurzfristige krisenhafte Lagen mit Knappheiten und Preissteigerungen, wie sie Anlass für den Tankrabatt waren, dürfte dieses Instrumentarium daher kaum geeignet sein.
Nicht minder spektakulär sind die Verschärfungen bei der Abschöpfung von Vorteilen durch Kartellrechtsverstöße in § 34 GWB n. F. Wirtschaftliche Vorteile, die Unternehmen durch kartellrechtswidriges Verhalten erzielt haben, können künftig einfacher und effektiver von der Kartellbehörde zugunsten der Staatskasse abgeschöpft werden. Zu diesem Zweck gilt eine gesetzliche Vermutung, wonach ein Unternehmen durch den nachgewiesenen Kartellrechtsverstoß einen wirtschaftlichen Vorteil von mindestens 1 % seiner Inlandsumsätze mit den betroffenen Produkten bzw. Dienstleistungen erzielt hat. Widerlegt werden kann die Vermutung allein durch den Nachweis, dass das betroffene Unternehmen im relevanten Zeitraum insgesamt keinen Gewinn in entsprechender Höhe erzielt hat. Dieser Nachweis wird dadurch weiter erschwert, dass hierbei auf die weltweiten Gewinne der gesamten Unternehmensgruppe abgestellt wird. Für diversifizierte und international tätige Unternehmen dürfte eine Widerlegung der Vermutung daher de facto ausgeschlossen sein. Es ist zu erwarten, dass das bislang in der Praxis nicht angewandte Instrument der Vorteilsabschöpfung hiermit deutlich an Bedeutung gewinnen wird. Dies dürfte weniger die typischen Hardcore-Kartelle betreffen, zumal bei diesen die Abschöpfung gegenüber dem privaten Schadensersatz ohnehin subsidiär ist. Vielmehr dürfte es um Verfahren wegen Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gehen, in denen das Bundeskartellamt bisher von einer finanziellen Belastung der betroffenen Unternehmen abgesehen hat.
Weniger kontrovers sind die Neuregelungen, mit denen das Bundeskartellamt in die Lage versetzt wird, die Europäische Kommission bei der Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA) mit eigenen Ermittlungen zu unterstützen. Zu begrüßen sind die Erleichterungen für die private Rechtsdurchsetzung des DMA. Die weitgehende Gleichstellung zum Kartellschadensersatzrecht, insbesondere die Übertragung des Konzepts der Bindungswirkung von Entscheidungen der Kommission und Europäischer Gerichte in Schadensersatzverfahren wegen Verstößen gegen Verhaltenspflichten im DMA dürfte das Private Enforcement in diesem Bereich spürbar stärken.
In der Praxis bleibt abzuwarten, wann gegen wen und in welchem Umfang das Bundeskartellamt von seinen neuen Befugnissen Gebrauch machen wird. Kartellamtspräsident Mundt hat in den letzten Monaten wiederholt versichert, insbesondere mit dem Instrument eines verstoßunabhängigen Markteingriffs verantwortungsvoll umgehen zu wollen. Unternehmen werden dies mit Spannung beobachten.
Dr. Andreas Hahn, RA, ist Partner bei Oppenländer Rechtsanwälte. Er berät Mandanten zu allen Aspekten des deutschen und europäischen Kartellrechts. Der Schwerpunkt seiner Beratungstätigkeit liegt in komplexen Fusionskontrollverfahren, Kartelluntersuchungen und Missbrauchsverfahren sowie der diesbezüglichen Vertretung von Unternehmen vor deutschen und europäischen Kartellbehörden und Gerichten.