Naht das Ende der Sollbesteuerung?
Mit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) vom 21.6.2017 – V R 51/16 – könnte der Bundesfinanzhof (BFH) das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in seinen Grundfesten erschüttern.
Das Verfahren betrifft eine Spielervermittlerin, die ihre Umsätze nach vereinbarten Entgelten besteuerte. Im Streitjahr hatte sie erfolgreich Profifußballspieler an Vereine vermittelt und erdiente einen Vergütungsanspruch in Form einer in Raten zahlbaren Provision. Das FA forderte die Umsatzsteuer auf den Gesamtbetrag für das Jahr der Leistungserbringung. Abweichend hiervon gestand das Niedersächsische FG (vgl. Urteil vom 18.8.2016 – 5 K 288/15, EFG 2016, 1925) der Spielervermittlerin eine Umsatzsteuerberichtigung nach § 17 UStG für die erst in Folgejahren zufließenden Raten zu. Hiergegen wendete sich die Finanzverwaltung mit der Revision zum BFH.
Der BFH hatte bereits mit Urteil vom 24.10.2013 (V R 31/12, BStBl. II 2015, 674, BB 2014, 2017 m. BB-Komm. Weimann) erhebliche Bedenken am Prinzip der Sollbesteuerung für eine Konstellation geäußert, in welcher der leistende Unternehmer das ihm zustehende Entgelt erst über einen Zeitraum von zwei bis fünf Jahren vereinnahmen konnte. Ausgehend von der Grundüberlegung, dass im Mehrwertsteuersystem der Letztverbrauch belastet werden soll und der Unternehmer lediglich Steuereinnehmer für Rechnung der Staatskasse ist, ging der BFH von einem Verstoß gegen dieses Prinzip wie auch von einer Ungleichbehandlung von istbesteuernden Unternehmen und solchen Unternehmen aus, die der Sollbesteuerung unterliegen.
In der aktuellen EuGH-Vorlage führt der BFH entsprechend weiter aus und stützt sich dabei sowohl auf die Mehrwertsteuersystemrichtlinie als auch auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, welche in Art. 20 bestimmt, dass alle Personen vor dem Gesetz gleich sind.
Bisher wird ganz überwiegend davon ausgegangen, dass das Prinzip der Sollbesteuerung grundsätzlich zu einer Steuerabführungspflicht des leistenden Unternehmers führt, unabhängig vom tatsächlichen Zahlungszeitpunkt des Entgelts. Berichtigungstatbestände liegen nur dann vor, wenn eine Forderung nicht mehr realisiert werden kann.
Sollte der EuGH zu dem Ergebnis kommen, dass die Bedenken des BFH berechtigt sind, könnten sich hieraus erhebliche Folgen ergeben. So wird bisher in Fällen des Finanzierungsleasings vertreten, dass eine Lieferung von Gegenständen im Sinne des Mehrwertsteuerrechts vorliegt, bei der die Umsatzsteuer in voller Höhe mit Verschaffung der eigentümerähnlichen Verfügungsmacht entsteht, obwohl die Leasingraten über die Laufzeit des Vertrages verteilt werden. Die gleiche Beurteilung ergibt sich für den Ratenkauf. Wäre den Überlegungen des BFH zu folgen, müsste die Umsatzsteuer in entsprechenden Fallkonstellationen wegen mehrjähriger temporärer Uneinbringlichkeit berichtigt werden und die Steuerbelastung des leistenden Unternehmers träte erst später ein. Wirtschaftlich ist dies vor allem für Fälle relevant, in denen der Leistungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Bei Finanzierungsleasingverträgen mit vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmern ist es hingegen regelmäßig üblich, den gesamten Umsatzsteuerbetrag bereits vorab zu vereinnahmen und eine entsprechende Rechnung mit Umsatzsteuerausweis zu stellen, die dem Leistungsempfänger den vollen Vorsteuerabzug ermöglicht.
Eine positive Entscheidung des EuGH hätte nicht nur Auswirkung auf die Steuerschuld des leistenden Unternehmers, sondern auch Auswirkungen auf den Vorsteuerabzug der Leistungsempfänger. Diese müssten nämlich dann nach § 17 UStG entsprechend Berichtigungen ihres Vorsteuerabzugs vornehmen.
Es ist sehr schwierig einzuschätzen, wie sich der EuGH positionieren wird. Bekanntlich ist man gerade in Mehrwertsteuersachen vor unerwarteten Entscheidungen nie sicher (vergleiche beispielhaft die Entscheidungen in den Rechtssachen “Ibero Tours” – C-300/12 vom 16.1.2014, “Fast Bunkering Klaipeda” – C-526/13 vom 3.9.2015, “Toridas” – C-386/16 vom 26.7.2017, oder “Kommission gegen Deutschland” – C-616/15 vom 21.9.2017). Allerdings spricht viel dafür, dass der EuGH abermals das Primat der Mehrwertsteuersystemrichtlinie zur Richtschnur der Entscheidungsfindung machen wird. Demzufolge wird er vermutlich – ausgehend von der Tatsache, dass die Mehrwertsteuersystemrichtlinie die Sollbesteuerung als Grundprinzip vorsieht (vgl. Art. 63) und gerade die Berichtigung wegen Uneinbringlichkeit eine rein optionale Regelung ist (vgl. Art. 90 Abs. 2, bestätigt in EuGH vom 15.5.2014 – C-337/13, “Almos Agrarkülkereskedelmi”, relevant ggf. anhängiges Verfahren C-404/16 “Lombard”) – die Bedenken des BFH im Hinblick auf die Charta und die Ungleichbehandlung nicht teilen. Im Kontext bietet sich ein Hinweis auf die Entscheidungen des EuGH zur ungleichen Besteuerung digitaler und gedruckter Bücher (vergleiche EuGH-Urteil “RPO” vom 7.3.2017 – C-390/15) und auch zur anerkannten Ungleichbehandlung von Unternehmern und Nichtunternehmern im Hinblick auf die Zuordnungsmöglichkeit gemischt genutzter Wirtschaftsgüter (vergleiche EuGH, Urteil vom 23.4.2009 – C-460/07, “Sandra Puffer”) an.
Deutsche Unternehmen sollten das Verfahren auf jeden Fall aufmerksam beobachten.
Dipl.-oec. Robert C. Prätzler, StB, ist Partner bei Ernst & Young GmbH, Eschborn, im Bereich Indirect Tax Services sowie Lehrbeauftragter an der Hochschule Worms. Er ist seit fast 20 Jahren auf dem Gebiet der nationalen und internationalen Steuerberatung in Big-4-Gesellschaften und der Industrie tätig und veröffentlicht regelmäßig zu steuerlichen Themen. Sein Tätigkeitsschwerpunkt besteht in der Umsatzsteuerberatung, insbesondere zu grenzüberschreitenden Liefer- und Leistungsbeziehungen, Immobiliensachverhalten, Fragen der Transaktionsberatung und der umsatzsteuerlichen Organschaft.