BFH zur Diskussion über zeitgemäße Verzinsung von Steuernachforderungen
Vielleicht war es keine wirkliche Überraschung, wie der BFH in seinem Urteil III R 10/16 vom 9.11.2017 entschieden hat. Die vom Gericht geprüften Einlagen- und Kreditzinsen lagen in einer Bandbreite von 0,15 Prozent bis 14,70 Prozent. Nach Auffassung des III. Senats verstößt die Höhe der Nachforderungszinsen von 6 Prozent für in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume daher nicht gegen das Grundgesetz. Damit setzt der BFH seine Rechtsprechung fort, wie er sie auch schon in Urteilen aus den Jahren 2011, 2013, 2014 und 2015 für Streitjahre bis einschließlich 2011 vertreten hatte.
Trotzdem war die Bundessteuerberaterkammer enttäuscht, denn mit jedem Jahr wird deutlicher, dass es sich bei den heute vorhandenen Niedrigzinsen nicht um eine kurzfristige Ausnahmeerscheinung handelt, keinen “Ausreißer”, den Gesetzgebung und Rechtsprechung dauerhaft ignorieren dürfen. Die Verzinsung von Steuernachzahlungen oder Steuererstattungen beläuft sich heute auf ein halbes Prozent im Monat, also 6 Prozent im Jahr. Dieser im Steuersäumnisgesetz bestimmte Zinssatz ist seit dem Steueränderungsgesetz im Jahr 1961 unverändert geblieben. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich demgegenüber in jüngerer Zeit radikal geändert.
Die Zinssätze sind seit 2008 im Gefolge der Finanzkrise weltweit abgesenkt worden, um Wachstumskräfte zu stimulieren. Der Leitzins der Europäischen Zentralbank liegt seit 2014 nahe der Nullzinslinie. Dies ist Folge der expansiven Geldpolitik und politisch gewollt. Der Fiskus profitiert davon in mehrfacher Hinsicht. Zum einen wird der Staatshaushalt dadurch signifikant entlastet; so hat der Bund in den vergangenen Jahren pro Jahr ca. 25 Mrd. Euro an Zinsausgaben gespart. Zum anderen kommt es zu deutlichen Mehreinnahmen: Im Jahr 2014 brachten die Zinsen auf Steuernachzahlungen rund 1,17 Mrd. Euro ein. Im Jahr 2015 waren dies knapp 749 Mio. Euro.
Dazu muss man allerdings sagen, dass die Vollverzinsung nach der Abgabenordnung nicht dem Zweck dienen soll, dem Staat zusätzliche Einnahmen zu verschaffen. Vielmehr sollen die Vorteile, die ein Steuerpflichtiger durch eine verspätete Steuernachzahlung erzielt, abgeschöpft werden. Denn er kann bis zur Steuerzahlung über eine Summe verfügen, die an sich dem Steuergläubiger, dem Finanzamt, zusteht. Der Steuerpflichtige könnte diese Summe vorübergehend anlegen und selber Zinserträge daraus erzielen. Oder aber er erspart sich Kreditzinsen, die fällig würden, wenn er die Steuer schon früher entrichten und die Summe zwischenfinanzieren müsste. Die Verzinsung soll der gleichmäßigen Behandlung der Steuerschuldner in der Zeit dienen. Soweit die Theorie.
Wie sieht es aber in der Praxis aus? Die Vollverzinsung beabsichtigt keine Sanktionierung des Steuerpflichtigen; dazu dienen Verspätungszuschlag oder Säumniszuschlag. Faktisch werden die erhobenen Zinsen aber zu einem Strafzuschlag auf die nachzuentrichtende Steuer. Besonders in Betriebsprüfungen kommt es zu der Situation, dass das dort erzielte Mehrergebnis im Wesentlichen von den Zinsen auf nachzuentrichtende Steuern bestimmt wird. Viele Unternehmer fühlen sich daher gedrängt, in einer Betriebsprüfung schnell zu einer Verständigung mit dem Prüfer zu kommen und streitige Fragen nicht erst gerichtlich klären zu lassen. Damit wird letztlich auch der Rechtsschutz beschnitten und die Finanzverwaltung verfügt über ein nicht gerechtfertigtes Drohpotential gegenüber dem Steuerpflichtigen. Dies gilt umso mehr, weil der Zinslauf zeitlich nicht mehr begrenzt ist. Denn die ursprünglich vorgesehene Begrenzung auf vier Jahre wurde bereits durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 aufgehoben.
Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, nach denen der geltende Zinssatz die Anforderungen an eine verfassungskonforme Typisierung nicht mehr erfüllt. Diese Auffassung unterstützt nun auch der IX. Senat des BFH. In einem Aussetzungsbeschluss vom 25.4.2018 äußerte er schwerwiegende verfassungsrechtliche Zweifel, ob die Zinshöhe noch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz vereinbar ist. Bei der gebotenen summarischen Prüfung bestehe keine sachliche Rechtfertigung für die gesetzliche Zinshöhe. Allein Praktikabilität und Verwaltungsvereinfachung könnten angesichts des heutigen technischen Umfeldes dafür nicht mehr tragend sein. Das sieht die Bundessteuerberaterkammer ganz genau so und sieht in dem Beschluss einen Weckruf für den Gesetzgeber, endlich tätig zu werden.
Und es gibt weiteren Grund zur Hoffnung. Auch dem BVerfG liegt diese Frage bereits vor. In seiner Jahresvorschau 2018 kündigte es eine Entscheidung zu den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 zu der Frage an, ob der gesetzliche Zinssatz des § 238 Abs. 1 AO für Verzinsungszeiträume nach dem 31.12.2009 beziehungsweise nach dem 31.12.2011 verfassungswidrig ist.
Dipl.-Ök. Dr. Hartmut Schwab, StB, Vizepräsident der BStBK, Präsident der StBK München, Inhaber weiterer Ehrenämter von berufsrechtlichen Einrichtungen und wissenschaftlichen Institutionen.