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RdF-News
12.02.2024
RdF-News
FG Köln: Steuererlass bei hohen Aktienverlusten

FG Köln, Urteil vom 26.4.2023 – 5 K 1403/21, Rev. eingelegt (Az. BFH: IX R 18/23)

ECLI:DE:FGK:2023:0426.5K1403.21.00

RdF Online: RdFL2024-76-1

Nicht Amtlicher Leitsatz

Die Beschränkung des Verlustausgleichs für Veräußerungs- und Stillhaltegeschäfte (§ 22 Nr. 3 S. 3, 4 EStG; § 23 Abs. 3 S. 8, 9 EStG a.F.) ist im Jahr 2002 mit dem subjektiven Nettoprinzip unvereinbar, soweit durch tatsächliche Geldabflüsse das Existenzminimum besteuert wird.

 

Sachverhalt

Die Beteiligten streiten darüber, ob durch die Besteuerung der Klägerin für das Streitjahr 2002 unzulässig in deren Existenzminimum eingegriffen wird und ihr deshalb ein Anspruch auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 der Abgabenordnung (AO) zusteht.

Die Klägerin bezog im Jahr 2002 Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit als .... Ferner bezog sie Einkünfte aus selbständiger Arbeit, aus Gewerbebetrieb sowie Kapitaleinkünfte und insbesondere Vermietungseinkünfte .... Der Gesamtbetrag der Einkünfte betrug rd. 520.000 €.

Darüber hinaus erlitt die Klägerin in 2002 ausweislich des Einkommensteuer-Änderungsbescheides vom 3.11.2010 bzw. des geänderten Bescheides über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31.12.2002 vom 17.12.2010 Verluste aus Leistungen in Form von Stillhalter- bzw. Optionsgeschäften i.H.v. 393.186 € und aus anderen privaten Veräußerungsgeschäften i.H.v. 33.041 € (vgl. Bl. 5 des Schreibens vom 1.2.2021 sowie die Zusammenstellung im Anschluss an das ergänzende Schreiben vom 14.2.2021). Bei der Ermittlung der Einkünfte aus Stillhaltergeschäften wurden als Aufwendungen neben den von der Klägerin im Rahmen der Stillhaltergeschäfte beglichenen Schulden aus den Glattstellungsgeschäften auch Schuldzinsen aus Darlehen berücksichtigt, welche die Klägerin zur Begleichung der Schulden aus den Glattstellungsgeschäften aufnehmen musste. Nach dem Gang der mündlichen Verhandlung ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass insbesondere die liquiden Geldabflüsse, die die Klägerin im Streitjahr 2002 im Rahmen der Glattstellungsgeschäfte an die Banken zu leisten hatte, zu den inzwischen unstreitigen Verlusten aus § 22 Nr. 3 EStG i.H.v. 393.186 € geführt haben. Den Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften liegen im Wesentlichen Beteiligungsverkäufe zugrunde und - nach der ergänzenden Erläuterung der Klägerin im Schreiben vom 18.4.2023 - auch Veräußerungsverluste i.H.v. ... € (nach Anwendung des Halbeinkünfteverfahrens) aus von der Klägerin selbst getätigten Aktiengeschäften.

Wegen der Verlustausgleichsbeschränkung gemäß § 22 Nr. 3 Sätze 3 und 4 und § 23 Abs. 3 Sätze 8 und 9 Einkommensteuergesetz (EStG) erfolgte keine Verrechnung mit den positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten. Die lt. Einkommensteuer-Änderungsbescheid vom 3.11.2010 festgesetzte Gesamtsteuerbelastung der Klägerin aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag betrug rd. ... €. Mit Bescheid vom 17.12.2010 erfolgte eine Verlustfeststellung auf den 31.12.2002, mit welcher die erlittenen Verluste dem jeweiligen Verlustverrechnungskreis zugeordnet und der verbleibende Verlustvortrag nach § 10d Abs. 4 EStG für die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften auf ... € bzw. für die Einkünfte aus Leistungen auf ... € festgestellt wurde.

Das zunächst zum Ruhen gebrachte Einspruchsverfahren wegen Einkommensteuer- und Verlustfeststellung für das Jahr 2002, im Rahmen dessen die Klägerin mit Einspruch vom 10.5.2004 begehrt hatte, die Verluste mit den positiven Einkünften aus anderen Einkunftsarten zu verrechnen, weil andernfalls das Verfassungsgebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums nicht beachtet werde, wurde zwischenzeitlich ohne Erfolg beendet (Einspruchsentscheidungen vom 2.6.2021 bzw. vom 18.11.2021, GA Bl. 192).

In den auf das Streitjahr 2002 folgenden Besteuerungszeiträumen wurden die festgestellten Verluste teilweise als Verlustabzüge einkunftsmindernd bei den Einkommensteuer-Veranlagungen berücksichtigt. So wurden den Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften die Gewinne der Folgejahre i.H.v. ... € gegengerechnet. Auch die Verluste aus Stillhaltergeschäften konnten durch Gewinne i.H.v. ... € in den nachfolgenden Jahren verrechnet werden, sodass die zum 31.12.2002 festgestellten verbleibenden Verlustvorträge gemäß § 10 d Abs. 4 EStG für die Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften bzw. für die Einkünfte aus Leistungen zwischenzeitlich teilweise verbraucht wurden.

Mit Schreiben vom 23.4.2017 beantragte die Klägerin, die Einkommensteuer und den Solidaritätszuschlag für das Jahr 2002 unter Berücksichtigung der im Jahr 2002 erzielten und in den Folgejahren verrechneten Verluste aus Gründen sachlicher Billigkeit (§ 163 Abs. 1 Satz 2 AO) niedriger festzusetzen.

Der Beklagte lehnte den Antrag auf abweichende Steuerfestsetzung mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 8.5.2017 ab. Zur Begründung verwies der Beklagte zur Vermeidung von Wiederholungen lediglich auf die Ablehnung eines entsprechenden Erlassantrags für das Jahr 2001, welchen die Klägerin bereits im Jahr 2015 gestellt hatte; weitere Ausführungen zur Ermessensbegründung erfolgten nicht.

Das seitens der Klägerin gegen die Ablehnung einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen für das Jahr 2001 angestrengte Klageverfahren wurde in der Folgezeit durch klageabweisendes Urteil vom 5.9.2018 - 5 K 3009/15 beendet. Wegen der Begründung wird auf die in EFG 2019, 323 veröffentlichten Urteilsgründe Bezug genommen. Die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) der Klägerin blieb ohne Erfolg (BFH v. 21.5.2019 - IX B 106/18).

Der Einspruch der Klägerin gegen die vorliegend streitgegenständliche Ablehnung einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen für das Jahr 2002 wurde vom Beklagten nach Ergehen der BFH-Entscheidung im Verfahren IX B 106/18 als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 2.6.2021 aus: Zwar habe die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung die Rechtmäßigkeit der Besteuerung von Hinzuerwerb von der Leistungsfähigkeit abhängig gemacht. Allerdings könnten Durchbrechungen des Leistungsfähigkeitsprinzips auf der Grundlage von gemeinwohldienlichen Typisierungen verfassungskonform sein. Etwas anderes ergebe sich nicht aus dem Vorlagebeschluss des BFH zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 EStG 1997, denn dieser sei vom BVerfG als unzulässig verworfen worden, und auch in dem anschließend vom BFH unter dem Az. IX R 70/04 wieder aufgenommenen Verfahren seien keine Feststellungen über eine erdrosselnde Wirkung im Zusammenhang mit der durch Art. 14 GG geschützten Eigentumsgarantie getroffen worden. Von einer Verletzung der Eigentumsgarantie könne allenfalls gesprochen werden, wenn das Steuergesetz dem ihm begrifflich zukommenden Zweck zur Erzielung von Steuereinnahmen zuwiderlaufe, indem es darauf ausgelegt sei, die Erfüllung des Steuertatbestandes unmöglich zu machen und damit eine erdrosselnde Wirkung entfalte (Hinweis auf BVerfG 1 BvR 51/69). Im Streitfall sei jedoch nicht erkennbar, dass die Fortsetzung der Erwerbstätigkeit der Klägerin durch die Steuerlast ernsthaft gefährdet gewesen sei.

Die Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der nach § 163 AO vorzunehmenden Ermessensprüfung falle trotz der von der Klägerin neu vorgebrachten verfassungsrechtlichen Argumentation zur Verschonung des Existenzminimums zu Ungunsten der Klägerin aus. Billigkeitsmaßnahmen dürften nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers durchbrechen bzw. korrigieren, sondern nur einen im Einzelfall ungewollten Gesetzesüberhang beseitigen. Die Besonderheiten der Spekulationseinkünfte rechtfertigten es, für die daraus erzielten Verluste nicht die für Verluste aus anderen Einkunftsarten geltenden Verlustabzugsregelungen anzuwenden. Bei Optionsgeschäften handle es sich um hochspekulative Geschäfte, bei denen den Steuerpflichtigen auch die Risiken der Geschäfte träfen. Wenn der Steuerpflichtige dieses Risiko eingehe, seien hieraus erzielte Wertzuwächse nach dem Willen des Gesetzgebers der Besteuerung zu unterwerfen. Gleichwohl habe der Gesetzgeber entschieden, dass die Allgemeinheit bei einem Fehlschlagen der Spekulation nicht mit den Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Risikogeschäfte zu belasten sei. Ein Ausgleich solcher Verluste mit den Überschüssen anderer Einkunftsarten stelle einen Verstoß gegen den ebenfalls im Verfassungsrang stehenden Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung dar. Es sei unverhältnismäßig, die Gesamtheit der Steuerpflichtigen am Risiko der Klägerin durch die von ihr begehrte Verlustverrechnung zur Reduzierung ihrer Steuerlast teilhaben zu lassen.

Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit der Verrechnung im jeweiligen Verlustkreis dadurch geschaffen habe, dass diese Verluste nach Maßgabe des § 22 Nr. 3 Satz 4 EStG entsprechend den Regelungen des § 10d EStG diejenigen Einkünfte minderten, die im unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraum oder in den folgenden Veranlagungszeiträumen aus entsprechenden Optionsgeschäften erzielt würden. Gleiches gelte für private Veräußerungsgeschäfte nach § 23 Abs. 3 EStG. Da diese Vorschriften zeitraumübergreifende Wirkung hätten und die zeitliche Streckung des Verlustausgleichs gesetzlich gewollt sei, könne für die Frage der Unbilligkeit nicht allein auf den streitigen Veranlagungszeitraum abgestellt werden. Der Gesetzgeber habe in den Regelungen des § 22 Nr. 3 und § 23 Abs. 1 Nr. 4 EStG bewusst Härten in Kauf genommen, die sich aus der vorübergehenden Nichtberücksichtigung von Verlusten aus bestimmten Einkunftsarten ergäben. Eine sachliche Unbilligkeit könne daher allenfalls in dem - nicht gegebenen - Fall anzunehmen sein, dass es zu einem endgültigen Ausschluss des Verlustausgleichs aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen komme.

Im Streitfall sei zudem zu berücksichtigen, dass die Klägerin durch ihre eigene Initiative selbst zur Entstehung von Verlusten beigetragen habe, die nach § 22 Nr. 3 Satz 3 und 4 EStG nicht verrechnet werden könnten und damit selbst eine Ursache für das Eintreten ihrer Verluste und der so eingreifenden Verlustausgleichsbeschränkungen gesetzt habe. Soweit die Klägerin sich auf die Einschränkung ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit berufe, könne dies allenfalls bei der Prüfung einer Billigkeitsmaßnahme aus persönlichen Gründen eine Rolle spielen.

Mit ihrer dagegen gerichteten Klage begehrte die Klägerin zunächst eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen dahin, dass die Gesamtsteuerbelastung für 2002 aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag den Betrag von ... € nicht übersteigen dürfe. Ausgangspunkt war das sich aus dem Einkommensteuerbescheid für 2002 vom 3.11.2010 ergebende zu versteuernde Einkommen i.H.v. 517.116 €. Davon verbleibe unter Berücksichtigung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften (... (33.041 €) und der Verluste aus Leistungen nach Begleichung der Bankschulden aus den Glattstellungsgeschäften (393.186 €) ein Betrag i.H.v. 90.889 € für das Existenzminimum, sodass der Betrag der Gesamtsteuerbelastung unter weiterer Berücksichtigung des Grundfreibetrags i.H.v. 7.235 € für 2002 in Summe den Betrag von 83.654 € nicht überschreiten dürfe (Bl. 17 des Schreibens vom 29.9.2021, GA Bl. 41). Nach Hinweis des Gerichts im Vorfeld der mündlichen Verhandlung darauf, dass es auch nach dem eigenen Vortrag der Klägerin nur um die Berücksichtigung liquider Verluste, also real abgeflossener Beträge gehen könne (Hinweis auf BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02), hat die Klägerin auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung keine zu den Verlusten aus privaten Veräußerungsgeschäften gehörigen Anschaffungsgeschäfte mit tatsächlichem Geldabfluss im Jahr 2002 identifizieren können und erklärt, die Berücksichtigung der Verluste aus privaten Veräußerungsgeschäften (33.041 €) nicht weiter verfolgen zu wollen.

Zur Begründung ihres verbleibenden Begehrens einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen dahin, dass die Gesamtsteuerbelastung einen Betrag i.H.v. 116.695 € nicht übersteigen dürfe, macht die Klägerin unter Hinweis auf die BFH-Entscheidung IX R 8/14 geltend, der bisher gegenüber ihr vorgenommenen Einkommensteuerfestsetzung stünden keine entsprechenden realen Einkünfte bzw. kein entsprechender Zuwachs an Leistungskraft gegenüber, sodass die Einkommensteuerfestsetzung sie in ihren Grundrechten jedenfalls aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 14 GG verletze. Nach Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG müsse dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen nach Erfüllung der Einkommensteuerschuld zumindest dasjenige verbleiben, was er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhaltes benötige. Mit ihrer Berechnung im Klagebegründungsschreiben habe sie dargelegt, dass ihr das sächliche Existenzminimum nach Bezahlung der Einkommensteuer gerade nicht verblieben sei. Der Gesetzgeber habe mit den Ausgleichsbeschränkungen in § 22 Nr. 3 und § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG die Verlustberücksichtigung aus steuerpolitisch nicht anerkennenswerten Verlustquellen einschränken wollen und dabei missachtet, dass das Existenzminimum von Verfassungswegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer bilde. Der Hinweis des Beklagten auf den weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers sei unbehelflich, weil das zu verschonende Existenzminimum nicht einer einzelnen Einkunftsquelle zugeordnet werden könne. Die Feststellung, ob das Existenzminimum gesichert sei, lasse sich vielmehr nur anhand einer Saldierung der nach dem objektiven Nettoprinzip ermittelten Einkünfte treffen.

Soweit das gemäß Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG geschützte subjektive Nettoprinzip berührt sei, gelten strengere Grundsätze als für das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 GG abgeleitete objektive Nettoprinzip; denn das Existenzminimum, welches im Grundfreibetrag zum Ausdruck komme, müsse grundsätzlich gewahrt bleiben. Dementsprechend hätten die Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen unberücksichtigt zu bleiben. Unter Berücksichtigung des objektiven Nettoprinzips und der Einkommensteuerlast infolge der Anwendung der Verlustausgleichsbeschränkungen aus §§ 22, 23 EStG sei in ihr Existenzminimum des Jahres 2002 eingegriffen worden. Lediglich in Bezug auf Art. 3 GG (objektives Nettoprinzip) lasse der BFH in IX R 8/14 unter 2. b) cc) den Einwand der Besonderheit der Stillhaltergeschäfte gelten, nicht jedoch in Bezug auf die Gewährleistung der Steuerfreiheit des Existenzminimums auf der Grundlage von Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Denn hinsichtlich des subjektiven Nettoprinzips sei nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung v. 13.2.2008 - 2 BvL 1/06 unter D. II. 2. Abs. 2 ausdrücklich das jeweilige Kalenderjahr zu betrachten; entgegen der Auffassung des Beklagten in der Einspruchsentscheidung seien zukünftige Veranlagungszeiträume mithin nicht einzubeziehen.

Der für den Anspruch auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen maßgebliche "ungewollte Überhang" des im Allgemeinen nicht zu beanstandenden Gesetzes ergebe sich entgegen der Auffassung des Beklagten aus der ungenügenden Berücksichtigung des Existenzminimums, ähnlich wie das in dem vom BVerfG entschiedenen Fall 2 BvL 42/09 für die Kinder-Grundsicherung angenommen worden sei. Soweit sich der BFH in den Fällen IX R 10/12, IX R 46/12 und IX R 8/14 für die Verfassungsmäßigkeit der Verlustausgleichsbeschränkungen der §§ 22, 23 EStG ausgesprochen habe, sei letztlich nicht über Grundrechtsverstöße zu entscheiden gewesen. Es könne nicht Plan des Gesetzgebers gewesen sein, dass durch die Ausgestaltung der §§ 22, 23 EStG ein Zugriff auf das Existenzminimum in Form des Grundfreibetrags erfolge und so die Verpflichtung zur Verschonung des Existenzminimums unterlaufen werde. Sogar wenn vom Gesetzgeber bei der Regelung bedachte und in Kauf genommene Härten grundsätzlich keine Billigkeitsmaßnahmen rechtfertigten, sei eine solche Maßnahme gleichwohl geboten, wenn ohne die Billigkeitsmaßnahme das Verhalten des Gesetzgebers verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre, sowie das in ihrem - der Klägerin - Fall aufgrund des bereits dargelegten Verstoßes der Steuerfestsetzung gegen die Art. 1 und 20 GG der Fall wäre. Zur Wahrung der Grundrechte sei bei den Verlustausgleichsbeschränkungen der §§ 22, 23 EStG eine abweichende Steuerfestsetzung aus sachlichen Gründen geboten, um im Einzelfall auftretenden Härten durch Billigkeitsmaßnahmen zu begegnen (Hinweis auf Klein/Rüsken, AO, 16. Aufl. 2022, § 163 Rz. 1; BVerfG v. 5.4.1978 - 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102, BStBl II 1978, 441 unter C. II. 1. Abs. 4 zur Frage des Erlassgebotes betreffend die Vermögensteuer auf forstwirtschaftliches Vermögen und BFH v. 1.7.2014 - IX R 31/13, BFHE 246, 193, BStBl II 2014, 925, Tz. 22 zur Frage der Verfassungswidrigkeit der Höhe von Aussetzungszinsen; außerdem die Entscheidungen in IX R 10/12, IX R 46/12 und IX R 8/14 im Zusammenhang mit den Regelungen der §§ 22 Nr. 3, 23 Abs. 3 S. 8 EStG); nur mit dieser Maßgabe hielten die für verfassungsgemäß befundenen Verlustausgleichsbeschränkungen einer Prüfung am Maßstab der Grundrechte stand.

Zu Unrecht nehme der Beklagte an, dass es sich bei den Verlusten aus Stillhaltergeschäften nicht um "echte" Verluste handle. Die Kosten zur Glattstellung von eingegangenen Stillhalterpositionen seien ihrem Bankkonto belastet worden. Die von der Klägerin getätigten Stillhaltergeschäfte hätten somit entsprechend dem Beschluss des BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02 zu realen Geldabflüssen geführt. Ebenso wenig durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gedeckt sei die Auffassung des Beklagten, dass die privatnützigen Interessen der Klägerin durch Gemeinwohlinteressen überwogen würden. Denn nach der Rechtsprechung des BFH habe eine mögliche Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung hinter die individuellen Interessen des Steuerpflichtigen an der Freistellung seines Existenzminimums zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes zurückzutreten (BFH XI R 26/04 unter B. IV. 2).

Soweit der Beklagte auf die Möglichkeit der Verlustverrechnung in Folgejahren hinweise, vermische er objektives und subjektives Nettoprinzip. Nur beim objektiven Nettoprinzip gelte, dass es noch gewahrt sei, wenn eine Verlustnutzung prinzipiell ermöglicht bleibe und lediglich zeitlich gestreckt werde. Soweit es jedoch um die Verschonung des Existenzminimums gehe, sei auf das jeweilige Kalenderjahr abzustellen, was auch durch das BVerfG-Urteil 2 BvL 1/06, dort unter D. II. 2. der 2. Absatz bestätigt werde; zukünftige Veranlagungszeiträume seien nicht einzubeziehen. Im Übrigen habe die Klägerin nicht alle erlittenen Verluste mit Gewinnen in Folgejahren verrechnen können. Die Ausführungen des Beklagten vom Normzweck der Verlustausgleichsbeschränkung in § 22 EStG verkennten, dass der Gesetzeszweck dort ende, wo das Existenzminimum nicht verschont werde.

Ebenso wenig erschließe sich der Hinweis des Beklagten zur Frage der nicht vorgetragenen persönlichen Billigkeit. Die Klägerin habe sich ausdrücklich auf Gründe sachlicher Unbilligkeit durch die Grundrechtsverletzung bezogen, die sich aus der Nichtwahrung des Existenzminimums ergebe (sog. subjektives Nettoprinzip, BVerfG 2 BvL 42/93; BFH XI B 231/02 unter II. 2. Abs. 2). Die Fundstellen des Beklagten belegten nicht, dass die von der Klägerin geltend gemachte Verletzung von Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1GG (nur) zu einer persönlichen Unbilligkeit führen könne. Durch seine Prüfung von persönlichen Gründen für die Billigkeitsmaßnahme sei der Beklagte für seine Ermessenserwägung nicht von den richtigen Parametern ausgegangen.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ergebe sich aus dem Beschluss des BFH XI B 78/02 gerade nicht, dass Geldmittel jeder Art bei der Prüfung zu berücksichtigen seien, ob das Existenzminimum nach Steuerzugriff gesichert sei. Dies stehe in Widerspruch zum BFH-Beschluss XI B 7/02, wonach dem Steuerpflichtigen nach Steuerzugriff noch das Existenzminimum verbleiben müsse. Die Feststellung der Sicherung des Existenzminimums lasse sich nur an Hand einer Saldierung von Einnahmen und Ausgaben und damit letztlich der nach dem objektiven Nettoprinzip ermittelten Einkünfte treffen. Für die Frage des Existenzminimums seien danach die Einkünfte eines Veranlagungszeitraums zu betrachten, und zwar alle sich aus dem Einkommensteuerbescheid ergebenden Einkünfte. Vor diesem Hintergrund benötige der Beklagte zur Feststellung der Sicherung des Existenzminimums keine Kenntnis darüber, welche Darlehen die Klägerin aufgenommen und welche Spareinlagen sie gehabt habe. Im Beschluss vom 25.2.2005 - XI B 78/02 berechne der BFH unter II. B. 2. die Frage des Existenzminimums in der Weise, dass er zunächst die negativen Einkünfte mit den positiven Einkünften lt. ESt-Bescheid saldiere; anschließend subtrahiere er noch einen Verlustrücktrag sowie Sonderausgaben und prüfe, ob das Existenzminimum nach Abzug der Steuerlast noch gedeckt sei. An dieser Berechnung habe auch die Klägerin sich orientiert.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 8.5.2017 und der Einspruchsentscheidung vom 2.6.2021 zu verpflichten, eine abweichende Festsetzung der Einkommensteuer für 2002 aus sachlichen Billigkeitsgründen dahin vorzunehmen, dass die Gesamtbelastung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag den Betrag von 116.695 € nicht übersteigt.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte bezieht sich auf die Begründung in der Einspruchsentscheidung sowie die Begründung des Finanzgerichts Köln im Urteil vom 5.9.2018 - 5 K 3009/15 betreffend das Jahr 2001 und trägt ergänzend vor: In dem von der Klägerin angeführten Urteil IX R 8/14 werde festgestellt, dass die Verlustausgleichsbeschränkung nach § 22 Nr. 3 Sätze 3 und 4 EStG verfassungsrechtlich unbedenklich sei. Soweit der BFH betreffend die Verletzung des subjektiven Nettoprinzips auf eine Billigkeitsprüfung verwiesen habe, habe das BVerfG eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlass festgestellt, wenn die Anwendung eines nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem "ungewollten Überhang" führe. Allerdings könne die Verpflichtung zur Prüfung von Billigkeitsmaßnahmen nicht als Verpflichtung der Finanzverwaltung verstanden werden, generell auch Billigkeitsmaßnahmen zu erlassen. Billigkeitsmaßnahmen dürften nicht zur Begrenzung des allgemeinen Geltungsanspruchs eines Besteuerungstatbestandes führen, auch nicht unter Berufung auf das Verfassungsrecht (Hinweis auf Hübschmann/Hepp/Spitaler zu § 227 Tz. 180).

Soweit die Klägerin darauf abstelle, dass ihr nach Erfüllung der Einkommensteuerschuld von ihrem in 2002 Erworbenen nicht mehr das Existenzminimum verbleibe und sich dazu auf die Entscheidungen des BVerfG zu Kindergeldkürzungen (1 BvL 20/80, 26/84 und 4/86), zur partiellen Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrags (2 BvL 42/93), zum steuerlichen Grundfreibetrag (2 BvL 5/91, 8/91 und 14/91), zur steuerlichen Abzugsfähigkeit von Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung (2 BvR 400/98 und 1735/00), zur Berücksichtigung von privaten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen als Sonderaufwendungen (2 BvL 1/06) sowie die Entscheidungen des BFH zur Verfassungsmäßigkeit der Mindestbesteuerung und zur Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 3 Sätze 2 ff. EStG (XI B 231/02 und XI R 26/04) beziehe, müsse berücksichtigt werden, dass dort jeweils über die von Verfassung wegen zu berücksichtigenden Ausgaben zur Erlangung eines existenzsichernden Lebensstandards entschieden worden sei, also über Ausgaben des Steuerpflichtigen außerhalb seiner Erwerbssphäre. Um solche Aufwendungen oder um die Höhe des Grundfreibetrags gehe es im Streitfall jedoch gerade nicht.

Im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme auf der Grundlage von § 163 AO kämen sachliche Billigkeitsgründe und solche in der Person des Abgabenschuldners in Betracht. Die Prüfung verfassungsrechtlicher Wertungen im Bereich der sachlichen Unbilligkeit erstrecke sich auf Art. 3, 6, 12 und 14 GG. Die Prüfung im Bereich der persönlichen Unbilligkeit betreffe die Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 GG sowie Art. 1 i.V.m Art. 20 Abs. 1 GG. Für diesen Bereich fänden die Feststellungen des BVerfG für die individuelle steuerliche Belastungsgrenze Anwendung. Da im Streitfall die Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme wegen persönlicher Unbilligkeit nicht streitig sei, seien Ausführungen zur Verletzung des Art. 1 i.V.m Art. 20 Abs. 1 GG nicht weiter erforderlich. Auch in Bezug auf die Ausführungen der Klägerin zur Verletzung des Art. 14 GG seien die geltend gemachten Verfassungsverletzungen auf die persönliche Leistungsfähigkeit beschränkt. Die Prüfung der sachlichen Unbilligkeit in Bezug auf Art. 14 GG sei in der Einspruchsentscheidung vom 2.6.2021 vorgenommen worden. Auch in seinem Erwiderungsschreiben vom 29.6.2022 hat der Beklagte an seiner Auffassung festgehalten, dass die Prüfung einer Verletzung des aus Art. 1 i.V.m Art. 20 GG hergeleiteten subjektiven Nettoprinzips in den Bereich der persönlichen Billigkeitsgründe falle.

Von einer Prüfung der Art. 1 i.V.m Art. 20 GG im Rahmen einer sachlichen Billigkeitsprüfung habe der Beklagte abgesehen, da er die Verletzung des Rechts auf Verschonung des Existenzminimums im Bereich der persönlichen Billigkeitsgründe sehe. Daraus könne allerdings nicht gefolgert werden, dass der Beklagte keine Überprüfung auf persönliche Billigkeitsmaßnahmen vorgenommen habe. Der Beklagte habe in seinen Schreiben vom 29.06.2022 und 23.09.2022 dargelegt, dass die tatsächlich abgeflossenen Mittel zu berücksichtigen seien, da nach dem objektiven Nettoprinzip auch Einnahmen und Ausgaben erfasst würden, die tatsachlich nicht zu- bzw. abgeflossen seien. Diese Prüfung sei dem Beklagten nicht möglich gewesen, da die Klägerin zu der Höhe der gewährten Darlehen und der vorgehaltenen Spareinlage keine Angaben gemacht habe. Die auf dieser Grundlage vorzunehmende Liquiditätsprüfung habe auch nichts mit einer Prüfung der gesamten Vermögensverhältnisse zu tun, da lediglich überprüft würde, in welcher Weise die negativen Einkünfte der Klägerin in die Liquiditätsrechnung einzustellen seien (Erwiderung vom 10.1.2023).

Ohne eine Prüfungsnotwendigkeit auf der Grundlage der von der Klägerin betonten sachlichen Billigkeit anzuerkennen, merkt der Beklagte im Hinblick auf die Ausführungen der Klägerin zu ihrer Liquiditätsrechnung in seiner Erwiderung vom 23.9.2022 noch an: Nach der Rechtsprechung des BFH gelte das Verfassungsgebot der steuerlichen Verschonung des Existenzminimums nur bei Vorliegen "echter" Verluste, die zu einem tatsächlichen Mittelabfluss geführt hätten (BFH v. 25.2.2005 - XI B 78/02). Daher müssten alle Zu- und Abflüsse des Streitjahres berücksichtigt werden. Solange das Existenzminimum des Steuerpflichtigen durch den tatsächlichen Zufluss von Geldmitteln im Streitjahr gesichert sei, könne das verfassungsrechtliche Fundament des individuellen Nettoprinzips nicht verletzt sein. Das Existenzminimum orientiere sich nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung an dem tatsächlichen Bedarf des Steuerpflichtigen und könne deshalb nur unter Einbeziehung sozialhilferechtlicher und nicht allein nach steuerrechtlichen Kriterien ermittelt werden; die erforderliche Liquiditätsberechnung orientiere sich mithin nicht an den steuerlichen Grundsätzen zur Einkünfteermittlung. Sozialhilferechtlich komme es - unabhängig von Verlustausgleichsbeschränkungen - darauf an, ob präsente Mittel zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stünden. Der sozialrechtliche Einkommensbegriff erfasse grundsätzlich alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert ohne Rücksicht auf ihre Quelle und ohne Rücksicht darauf, ob sie als Einkünfte im Sinne des EStG steuerpflichtig seien oder nicht und stelle damit allein auf den tatsächlichen Mittelzufluss ab. Die Klägerin habe die Liquiditätsrechnung nicht nach diesen Kriterien vorgenommen und auch nicht die notwendigen weiteren Angaben zu Mitteln gemacht, die ihr zur Deckung des existenznotwendigen Bedarfs zur Verfügung gestanden hätten. Ihre Berechnung beziehe sich lediglich auf steuerlich relevante Einnahmen. Wie in der Einspruchsentscheidung bereits dargestellt, seien bei der Ermittlung der Einkünfte aus Stillhaltergeschäften Schuldzinsen berücksichtigt, die durch die Aufnahme von Darlehen zur Bedienung der aufgelaufenen Verluste entstanden seien. Es sei daher anzunehmen, dass die entstandenen Verluste die Klägerin wirtschaftlich nicht vollständig in diesem Veranlagungszeitraum belastet hätten. Denn der Klägerin hätten diese Darlehen zur Bestreitung ihres existenznotwendigen Bedarfs zumindest insoweit zur Verfügung gestanden, als es um die mit der Einkunftsquelle im Zusammenhang stehenden Darlehenszu- und -abflüsse gegangen sei. Daher seien als Geldmittel auch die zur Verfügung gestellten Darlehen bzw. die vorgehaltene Spareinlage zu berücksichtigen. Über die Höhe dieser Geldmittel habe der Beklagte jedoch keine Kenntnis. Ferner seien Teile der entstandenen Verluste durch eine Einlage gesichert. Diese Einlagen würden von den Banken auf Grund des hochriskanten Charakters dieser Geschäfte zur Absicherung verlangt.

Aus den Gründen

Die Klage ist begründet. Da das Ermessen des Beklagten im Rahmen des § 163 AO im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Gebot, das Existenzminimum der Klägerin auch für das Jahr 2002 steuerfrei zu belassen, auf Null reduziert war, war der Beklagte entsprechend dem Antrag der Klägerin zu verpflichten, eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen dahin vorzunehmen, dass die Gesamtsteuerbelastung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für das Jahr 2002 den Betrag von 116.695 € nicht übersteigt.

1. Gemäß § 163 Abs. 1 AO können Steuern niedriger festgesetzt werden und steuererhöhende Besteuerungsgrundlagen bei der Festsetzung der Steuer unberücksichtigt bleiben, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre.

2. Ebenso wie beim Steuererlass auf der Grundlage von § 227 AO handelt es sich bei der abweichenden Steuerfestsetzung nach § 163 AO um eine Ermessensentscheidung, bei der Inhalt und Grenzen des Ermessens durch den Begriff der Unbilligkeit bestimmt werden (vgl. u.a. BFH v. 4.2.2010 - II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663, v. 28.3.2012 - II R 42/11, BFH/NV 2012, 1486, v. 23.7.2013 - VIII R 17/10, BFHE 242, 134, BStBl II 2013, 820 sowie v. 14.3.2012 - XI R 28/09, BFH/NV 2012, 1493, jeweils unter Hinweis auf Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.10.1971 - GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Der GmS OGB hat den Begriff "unbillig" zwar als unbestimmten Rechtsbegriff gekennzeichnet, wegen der unlösbaren Verknüpfung mit der tatbestandlichen Rechtsfolge "könne" die Gesamtregelung aber gleichwohl als einheitliche Ermessensvorschrift angesehen.

Dabei regelt die Vorschrift des § 163 AO den Billigkeitserlass im Festsetzungsverfahren, während § 227 AO den Erlass im Erhebungsverfahren erfasst. Trotz unterschiedlicher Rechtsfolgen sind die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen beider Vorschriften dieselben. Der Begriff der Unbilligkeit ist derselbe wie in § 227 AO (BFH v. 26.10.1994 - X R 104/92, BStBl II 1995, 297; BFH v. 24.8.2011 - I R 87/10, BFH/NV 2012, 161; BFH v. 28.11.2016 - GrS 1/15, BStBl. II 2017, 393; s. § 227 Rz. 18; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 163 AO Tz. 1 u. 8).

3. Dementsprechend kann auch eine finanzbehördliche Ermessensentscheidung auf der Grundlage von § 163 AO betreffend eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nur in den durch § 102 FGO gezogenen Grenzen überprüft werden (BFH v. 26.5.1994 - IV R 51/93, BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833; BFH v. 16.3.2000 - IV R 3/99, BFHE 191, 226, BStBl. II 2000, 372), sodass die Entscheidung des Beklagten für das Gericht nur eingeschränkt darauf überprüfbar ist, ob die Finanzbehörde den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt hat, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob die Finanzbehörde von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens-)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) oder ein ihr zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung), oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet hat (BFH v. 12.5.2016 - II R 17/14, BFHE 253, 505, BStBl II 2016, 822, v. 26.6.2014 - IV R 17/14, BFH/NV 2014, 1507, Rz 25, v. 28.8.2012 - I R 10/12, BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266, jeweils m.w.N.); gemäß § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.

4. Gegenstand gerichtlicher Überprüfung i.S.d. § 102 ist die Ermessensentscheidung der Verwaltung so, wie sie nach Abschluss des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens getroffen wurde; danach ist für die Überprüfung grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung (Einspruchsentscheidung) abzustellen. Später eintretende Umstände sind nicht in die Rechtmäßigkeitsprüfung der Behördenentscheidung einzustellen. Geht es allerdings um Verpflichtungsklagen auf Erlass eines gebundenen Verwaltungsakts, wird auf die im Zeitpunkt der Entscheidung in der Tatsacheninstanz bestehende Sach- und Rechtslage abgestellt; dies gilt auch bei Ermessensentscheidungen, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt. Die begehrte Verpflichtung zum Bescheiderlass kann daher nur ausgesprochen werden, wenn zu dem Zeitpunkt, in dem die gerichtliche Entscheidung ergeht, ein Anspruch auf die erstrebte Verpflichtung des FA besteht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH v. 11.10.2017 - IX R 2/17, BFH/NV 2018, 322).

5. Die Unbilligkeit einer Steuerfestsetzung kann sich - wie auch im Rahmen des § 227 AO - aus sachlichen und aus persönlichen Gründen ergeben (BFH v. 26.5.1994 - IV R 51/93, BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833; BFH v. 16.3.2000 - IV R 3/99, BFHE 191, 226, BStBl. II 2000, 372). Entgegen der Auffassung des Beklagten ergab sich die Fehlerhaftigkeit der Ablehnungsentscheidung des Beklagten im Streitfall aus sachlichen Billigkeitsgründen.

a) Als persönliche Billigkeitsgründe werden in diesem Zusammenhang nur die wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen angesehen (BFH v. 26.5.1994 - IV R 51/93, BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833; BFH v. 16.3.2000 - IV R 3/99, BFHE 191, 226, BStBl. II 2000, 372). Der Antrag der Klägerin war indes auf eine Billigkeitsmaßnahme aus sachlichen Gründen gerichtet; dementsprechend zu Recht hat der Beklagte ausgeführt, dass die Klägerin nicht umfassend zu ihrer persönlichen Situation vorgetragen hat, um eine abweichende Steuerfestsetzung aus persönlichen Billigkeitsgründen vornehmen zu können.

b) Sachliche Billigkeitsgründe, auf die sich die Klägerin im Streitfall ausschließlich beruft, gehen aus dem anspruchsbegründenden Tatbestand selbst hervor und sind von den außerhalb dieses Tatbestandes liegenden persönlichen Gründen, insbesondere den wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen unabhängig.

aa) Sachlich unbillig ist die Festsetzung einer Steuer, wenn sie zwar äußerlich dem Gesetz entspricht, aber infolge eines Gesetzesüberhangs den Wertungen des Gesetzgebers im konkreten Falle derart zuwiderläuft, dass die Erhebung der Steuer als unbillig erscheint. Sachliche Gründe sind danach gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte (BFH v. 26.5.1994 – IV R 51/93, BFHE 174, 482, BStBl II 1994, 833; BFH v. 16.3.2000 - IV R 3/99, BFHE 191, 226, BStBl II 2000, 372 unter Hinweis auf BVerfG v. 5.4.1978 - 1 BvR 117/73, BStBl II 1978, 441; ferner BFH v. 4.2.2010 - II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663; v. 28.3.2012 - II R 42/11, BFH/NV 2012, 1486; ebenso Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Tz. 40). Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber die mit der Einziehung der Steuer verbundene Härte nicht bewusst in Kauf genommen hat. Die Billigkeitsregelungen auf der Grundlage von § 163 AO und § 227 AO enthalten keine Ermächtigung zur Korrektur des Gesetzes. Die Billigkeitsmaßnahme darf mithin nicht auf Erwägungen gestützt werden, die die vorgesehene Besteuerung allgemein oder für bestimmte Fallgruppen außer Kraft setzen würde (BFH v. 4.2.2010 - II R 25/08, BFHE 228, 130, BStBl II 2010, 663; v. 28.3.2012 - II R 42/11, BFH/NV 2012, 1486).

bb) Soweit im Einzelfall die Auswirkung von Grundrechten zu berücksichtigen ist, ist deren Auswirkung entgegen der Auffassung des Beklagten im Rahmen der sachlichen Billigkeit zu prüfen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den vom Beklagten angeführten Fundstellen im Schrifttum, insbesondere nicht aus der Kommentierung von Loose in Tipke/Kruse, dessen Auffassung der erkennende Senat sich insoweit zu eigen macht. Loose kommentiert die Auswirkung der Grundrechte auf den Einzelfall unter Rz. 77 seiner Kommentierung zu § 227 AO, also systematisch unter dem Punkt C. IX. (Sachliche Billigkeitsgründe), während die persönlichen Billigkeitsgründe unter D. ab Rz. 86 kommentiert sind. Vor diesem Hintergrund hat der Beklagte von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht, als er annahm, einer Prüfung der Verletzung von Art. 1 i.V.m Art. 20 Abs. 1 GG deshalb enthoben zu sein, weil dies den Bereich der persönlichen Billigkeit betreffe und die Klägerin nicht im Einzelnen zu ihrer wirtschaftlichen Situation vorgetragen habe.

Insbesondere kann bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Steuergesetzen eine Grundrechtsverletzung unter Feststellung einer sog. Typengerechtigkeit im Allgemeinen zu verneinen sein, mit der Folge, dass die Gerechtigkeit im Einzelfall von der durch das generelle Gesetz geschaffenen Gerechtigkeit abzuschichten ist, sodass die Anwendung eines in seiner Allgemeinheit verfassungsmäßigen Gesetzes im Einzelfall unbillig sein kann (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 227 AO Tz. 77). Das BVerfG hat dementsprechend in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass in atypischen Fällen eine Billigkeitsentscheidung zur Gewährleistung der Einzelfallgerechtigkeit erforderlich ist, um im Einzelfall der "Wirkkraft der Grundrechte" Rechnung zu tragen (BVerfG v. 12.10.1976 - 1 BvR 2328/73, BVerfGE 43, 1 [12]; BVerfG v. 19.12.1978 - 1 BvR 335/76, 1 BvR 427/76, 1 BvR 811/76, BVerfGE 50, 57 [86]; BVerfG v. 10.11.1998 - 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216; BVerfG v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246; BVerfG v. 10.11.1998 - 2 BvR 1852/97, 2 BvR 1853/97, BVerfGE 99, 273; BVerfG v. 11.11.1998 - 2 BvL 10/95, BVerfGE 99, 280; ferner BFH v. 23.11.1994 - X R 124/92, BStBl II 1995, 824 [826]; v. 20.9.2012 - IV R 29/10, BStBl II 2013, 505).

cc) Zu Recht führt der Beklagte im Streitfall an, dass die Besteuerung der privaten Veräußerungs- und Stillhaltergeschäfte nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Form des objektiven Nettoprinzips verstößt. Vielmehr ist ihr Ergebnis (kein Abzug erlittener Verluste bei den Einkünften aus § 22 Nr. 3 EStG) die folgerichtige Ausprägung der Systematik des § 22 Nr. 2 und 3 EStG (BFH v. 12.7.2016 - IX R 11/14, HFR 2016, 979, BFH/NV 2016, 1691), durch die der Verlustausgleich als solcher nicht versagt, sondern lediglich zeitlich gestreckt wird (BFH v. 10.2.2015 - IX R 8/14, BFH/NV 2015, 830, eingehend insbesondere auch zur Art und zur Natur von Stillhaltergeschäften). Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, da Grundrechte ihre Wirkung grundsätzlich den jeweiligen Veranlagungszeitraum übergreifend entfalten, während das Periodizitätsprinzip des § 2 Abs. 7 EStG nur einfachgesetzlicher Natur ist (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02 und XI B 76/02, BFHE 202, 141 und 147, BStBl II 2003, 516 und 523).

Ebenso weist der BFH in seiner Entscheidung v. 12.7.2016 - IX R 11/14 (HFR 2016, 979, BFH/NV 2016, 1691) allerdings auf eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlass hin, die besteht, wenn die Anwendung des danach nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem "ungewollten Überhang" führt, was insbesondere im Falle der durch das Zusammenwirken verschiedener Regelungen entstandenen Einkommensteuerschuld angenommen wird, der in Wirklichkeit keinerlei Zuwachs an Leistungskraft zugrunde liegt, und die deshalb gegen das für das gesamte Steuerrecht geltende Übermaßverbot und gegen das besonders das Einkommensteuerrecht beherrschende Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit verstößt (BFH v. 12.7.2016 - IX R 11/14, HFR 2016, 979, BFH/NV 2016, 1691 m.w.N.).

dd) Trotz der danach grundsätzlich anzunehmenden Verfassungsmäßigkeit der Verlustausgleichsbeschränkung in § 22 Nr. 3 EStG (vgl. dazu auch BFH v. 11.2.2014 - IX R 46/12, HFR 2014, 610, BFH/NV 2014, 1025 und v. 16.6.2015 - IX R 26/14, BFHE 250, 362, BStBl II 2015, 1019) hat der Beklagte im Streitfall mit der Ablehnung der begehrten Billigkeitsentscheidung die ihm durch die Verfassung gesetzten Grenzen seines Ermessens überschritten. Denn nach dem gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang ausgestatteten sog. subjektiven Nettoprinzip muss der Staat dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen soviel steuerfrei belassen, wie er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und - unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 GG - desjenigen seiner Familie benötigt (Existenzminimum); der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungswegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02 und XI B 76/02, BFHE 2004, 141 und 147, BStBl II 2003, 516 und 523 unter Hinweis u.a. auf BVerfG v. 25.9.1992 - 2 BvL 5/91, 8/91, 14/91, BStBl II 1993, 413, v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174, jeweils m.w.N.; vgl. ferner BVerfG v. 13.2.2008 - 2 BvL 1/06, BVerfGE 2008, 125, HFR 2008, 500 zur Verfassungswidrigkeit der früheren Regelung zum Sonderausgabenabzug).

Dabei ergibt sich aus der Natur der verfassungsrechtlichen Garantie des Existenzminimums, dass dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen in jedem Jahr das für seinen Lebensunterhalt tatsächlich und unabweisbar Benötigte steuerfrei belassen bleiben muss, mithin insoweit entgegen der Auffassung des Beklagten keine den jeweiligen Veranlagungszeitraum übergreifende Betrachtung Platz greifen kann (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02, BFHE 2004, 141, BStBl II 2003, 516). Verfehlt ist daher der Hinweis des Beklagten auf die zeitraumübergreifende Wirkung der vom Gesetzgeber in Anlehnung an die Regelungen des § 10d EStG geschaffenen Möglichkeit einer gestreckten Verlustverrechnung im jeweiligen Verlustkreis, aufgrund derer auch für die Frage des Existenzminimums und einer daraus ggf. resultierenden Unbilligkeit nicht allein auf den jeweiligen Veranlagungszeitraum abgestellt werden könne. Die Entscheidung des Beklagten, mit der er die von der Klägerin begehrte Billigkeitsentscheidung abgelehnt hat, erweist sich mithin schon deshalb als rechtswidrig, weil der Beklagte bei seiner Entscheidung die sich aus der Verfassung ergebende Grenze missachtet hat, dass dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen in jedem Jahr das für seinen Lebensunterhalt Benötigte steuerfrei belassen bleiben muss. Der erkennende Senat nimmt weiter an, dass der Gesetzgeber, hätte er - wie im Fall der Klägerin für das Streitjahr - die Möglichkeit des Eingreifens der Verlustabzugsbeschränkung in das Existenzminimum gesehen, insoweit eine abweichende Regelung geschaffen hätte.

ee) Etwas anderes ergibt sich nach Überzeugung des erkennenden Senates auch nicht aus den vom Beklagten angeführten Besonderheiten für hochspekulative Spekulationsgeschäfte, deren Risiken der Steuerpflichtige bewusst eingegangen sei, und der vor diesem Hintergrund eingeführten Verlustabzugsbeschränkung i.V.m. der Erwägung, dass Billigkeitsmaßnahmen nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers durchbrechen bzw. korrigieren, sondern nur einen im Einzelfall ungewollten Gesetzesüberhang beseitigen dürfen. Zwar hält der erkennende Senat im Anschluss an die inzwischen ständige höchstrichterliche Rechtsprechung des IX. Senats des BFH die typisierende Entscheidung des Gesetzgebers für zulässig, die Allgemeinheit im Falle des Fehlschlagens der Spekulation nicht mit den Aufwendungen des Steuerpflichtigen für seine Risikogeschäfte zu belasten. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz muss jedoch vor dem Hintergrund des gemäß Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang ausgestatteten subjektiven Nettoprinzips für Fälle wie dem Streitfall gelten, in denen die Verlustabzugsbeschränkung dazu führen würde, dass der Staat dem Steuerpflichtigen von seinem Erworbenen nicht dasjenige steuerfrei belässt, was er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts braucht (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02, BFHE 2004, 141, BStBl II 2003, 516 unter Hinweis u.a. auf BVerfG v. 25.9.1992 - 2 BvL 5/91, 8/91, 14/91, BStBl II 1993, 413, v. 10.11.1998 - 2 BvL 42/93, BStBl II 1999, 174, jeweils m.w.N.). Vor diesem Hintergrund kann sich eine abweichende Bewertung auch nicht daraus ergeben, dass die Klägerin im Streitfall durch ihre bewusste und gewollte Entscheidung selbst zur Verlustentstehung beigetragen hat. Denn dieses Risiko trifft jeden, der eine verlustbringende Tätigkeit eingeht. Deshalb muss die Gemeinschaft jedenfalls dann, wenn sie die Gewinne hochspekulativer Tätigkeiten mit Wettcharakter besteuert, es auch ertragen, sich zumindest dann und insoweit an den Verlusten des Steuerpflichtigen zu beteiligen, als dem Steuerpflichtigen aus seiner steuerrelevanten Tätigkeit noch das Existenzminimum im jeweiligen Veranlagungszeitraum steuerfrei verbleibt.

Ebenso wenig zu einem anderen Ergebnis kann daher auch der vom Beklagten zur weiteren Begründung seiner Ansicht vorgebrachte Hinweis auf die - grundsätzlich zulässige - Typisierung des Gesetzgebers führen, die durch die gesetzliche Verlustausgleichsbeschränkung und den Verweis auf die Möglichkeit des über mehrere Jahre gestreckten Verlustausgleichs vorgenommen wird. Soweit von Verfassungswegen Typisierungen zulässig und die damit verbundenen Härten hinzunehmen sind, muss nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die Zahl der hiervon Betroffenen klein und darf die Grundrechtsverletzung nicht intensiv sein (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02, BFHE 2004, 141, BStBl II 2003, 516 unter Hinweis auf z.B. BVerfG vom 14.6.1994 - 1 BvR 1022/88, BVerfGE 91, 93, BStBl II 1994, 909). Abgesehen davon, dass die Zahl der im Veranlagungszeitraum 2002 von der Verlustausgleichsbeschränkung des § 22 Nr. 3 EStG betroffenen Steuerpflichtigen keineswegs klein war, bestehen erhebliche Bedenken, ob eine Verletzung der Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 1 GG noch hinnehmbar ist, wenn dem Steuerpflichtigen aus dem Gesamtergebnis seiner steuerrelevanten Tätigkeit nach Abzug der festgesetzten Einkommensteuer tatsächlich keine Mittel zur Bestreitung des Existenzminimums verbleiben.

ff) Entgegen der Auffassung des Beklagten hält der erkennende Senat die von der Klägerin in ihrer Klagebegründung vorgenommene Berechnung für zutreffend, die auf einer Saldierung der sich aus dem Einkommensteuerbescheid ergebenden einkommensteuerrelevanten Tätigkeiten beruht, unabhängig davon, welche Darlehen die Klägerin aufgenommen oder nicht aufgenommen hat und welche Spareinlagen sie hatte oder nicht hatte (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02, BFHE 2004, 141, BStBl II 2003, 516). Dies ergibt sich nach Überzeugung des erkennenden Senates auch aus dem Beschluss des BFH v. 25.2.2005 - XI B 78/02, in welchem der BFH unter II. B. 2. die Freistellung des Existenzminimums in der Weise ermittelte, dass er zunächst die negativen Einkünfte mit den positiven Einkünften lt. ESt-Bescheid saldierte und anschließend prüfte, ob das Existenzminimum nach Abzug der Steuerlast noch gedeckt war. An dieser Berechnung hat sich auch die Klägerin orientiert. Ihrem zu versteuernden Einkommen lt. ESt-Bescheid i.H.v. 517.116 € standen die nach § 22 Nr. 3 EStG nicht berücksichtigten Verluste aus Leistungen i.H.v. 393.186 € gegenüber, welche in erster Linie auf den im Streitjahr 2002 nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung unstreitig abgeflossenen Aufwendungen der Klägerin zur Begleichung ihrer Bankschulden aus den Glattstellungsgeschäften im Rahmen der Stillhaltergeschäfte beruhten (zur Berücksichtigung liquider abgeflossener Aufwendungen vgl. BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02 und XI B 76/02, BFHE 202, 141 und 147, BStBl II 2003, 516 und 523; zum Charakter der im Rahmen der Glattstellungsgeschäfte an die Bank geleisteten Zahlungen als Erwerbsaufwendungen eingehend BFH v. 10.2.2015 - IX R 8/14, BFH/NV 2015, 830, v. 11.2.2014 - IX R 46/12, HFR 2014, 610, BFH/NV 2014, 1025 und v. 12.7.2016 - IX R 11/14, HFR 2016, 979, BFH/NV 2016, 1691). Dementsprechend dürfte die zulässige Gesamtsteuerbelastung der Klägerin aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag den Betrag von 116.695 € nicht überschreiten, damit der Klägerin das Existenzminimum des Jahres 2002 unbelastet von der Einkommensteuer verblieb, welches der erkennende Senat in Anlehnung an den Grundfreibetrag für das Jahr 2002 mit 7.235 € bemessen hat.

gg) Soweit der Beklagte sich demgegenüber auf einen Verstoß gegen den ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz der Besteuerungsgleichheit bzw. der Gleichmäßigkeit der Besteuerung beruft, der durch den Ausgleich von Verlusten aus Hochrisikogeschäften mit den Überschüssen anderer Einkunftsarten einträte und die Allgemeinheit zugunsten eines einzelnen Steuerpflichtigen belasten würde, ist diese Erwägung auch nach Auffassung des erkennenden Senates zwar zutreffend. Für die Gewichtung der Verfassungsgrundsätze der Besteuerungsgleichheit und des subjektiven Nettoprinzips geht die höchstrichterliche Rechtsprechung allerdings davon aus, dass bei Betroffenheit des subjektiven Nettoprinzips (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) strengere Grundsätze gelten als für das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) abgeleitete objektive Nettoprinzip (BFH v. 6.3.2003 - XI B 7/02 und XI B 76/02, BFHE 202, 141 und 147, BStBl II 2003, 516 und 523).

6. Aus der Grundrechtsverletzung, die im Streitfall ohne die begehrte Billigkeitsentscheidung durch die Verletzung des subjektiven Nettoprinzips einträte, folgt eine Ermessensreduzierung auf Null (BFH v. 16.3.2016 - VII R 36/13, HFR 2016, 763, BFH/NV 2016, 1189), aufgrund derer der Beklagte im Streitfall zu verpflichten war, den erstrebten Verwaltungsakt zu erlassen (16.11.2005 - X R 3/04, BFHE 211, 30, BStBl II 2006, 155) und auf der Grundlage von § 163 Abs. 1 AO aus Gründen sachlicher Billigkeit eine abweichende Steuerfestsetzung der Einkommensteuer der Klägerin für das Jahr 2002 dahin vorzunehmen, dass die Gesamtbelastung aus Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag den Betrag von 116.695 € nicht übersteigt.

7. Die Revision war wegen einer nicht auszuschließenden Abweichung der Entscheidung des erkennenden Senates von der das Vorjahr betreffenden Entscheidung des BFH v. 21.5.2019 - IX B 106/18 und - vor dem Hintergrund der BFH-Entscheidung IX R 8/14 - wegen grundsätzlicher Bedeutung der vom Beklagten aufgeworfenen Frage zuzulassen, ob das Existenzminimum dem Steuerpflichtigen für jedes Jahr steuerfrei zu belassen ist oder ob die grundsätzliche Verfassungsmäßigkeit des in § 22 Nr. 3 EStG in der Fassung für das Streitjahr es entsprechend der Auffassung des Beklagten rechtfertigt, für die Frage der Freistellung des Existenzminimums eine Gesamtbetrachtung über mehrere Jahre vorzunehmen.

8. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

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