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RdF-News
30.10.2015
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FG Münster: 2009 vereinnahmte Stückzinsen für vor dem 1.1.2009 erworbene Kapitalforderungen als Einnahmen aus Kapitalvermögen

FG Münster, Urteil vom 24.7.2015 – 4 K 1494/13 F

Sachverhalt

Die Klägerin ist eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Gesellschafter sind Dr. B. A und C. A, die mittels der Klägerin Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung sowie Kapitalvermögen erzielen.

Mit Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für das Jahr 2009 vom 30.5.2011 wurden u. a. von der Klägerin vereinnahmte Kapitalerträge, die nicht dem Steuerabzug unterlegen haben, in Höhe von yy EUR festgestellt. Hierin enthalten sind in 2009 zugeflossene Stückzinsen in Höhe von xx EUR anlässlich der Veräußerung einer Kapitalforderung, die die Klägerin vor dem 1.1.2009 erworben hatte.

Mit am 7.6.2011 beim Beklagten eingegangenem Schreiben legte die Klägerin gegen diesen Bescheid Einspruch ein. Nach ihrer Ansicht seien die Stückzinsen nicht steuerbar. Dazu machte sie in rechtlicher Hinsicht geltend: Mit der Einführung der Abgeltungssteuer und den Neuregelungen in §§ 43, 43a und 20 EStG sei die gesonderte Besteuerung von Stückzinsen gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG a. F. abgeschafft worden. Die Besteuerung der Stückzinsen werde nunmehr als Bestandteil des Veräußerungsgewinns nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG erfasst. Nach § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG sei die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n. F. allerdings für im Jahr 2009 vereinnahmte Stückzinsen aus vor dem 1.1.2009 erworbenen festverzinslichen Anleihen ausgeschlossen. Erst das Jahressteuergesetz 2010 vom 8.12.2010 (BGBl. I 2010, S. 1768, im Folgenden nur: JStG 2010) habe die Rechtslage geändert. § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG sei mit diesem Änderungsgesetz dahingehend formuliert worden, dass nunmehr Stückzinsen gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG als steuerpflichtige Kapitalerträge zu erfassen sind. Diese Neuregelung könne jedoch für das hier streitige Jahr 2009 keine Geltung beanspruchen. Die Vorschrift sei rückwirkend nur zum 31.12.2009 geschaffen worden. In Bezug auf weiter zurück liegende Zeiträume, nämlich den hier relevanten Zeitraum bis 31.12.2009, handele sich um eine echte Rückwirkung, die aus Gründen des Vertrauensschutzes verfassungsrechtlich unzulässig sei.

Der Beklagte änderte den Bescheid über die einheitliche und gesonderte Gewinnfeststellung mit Änderungsbescheid vom 14.9.2011 dahin gehend, dass er die Stückzinsen in Höhe von xx EUR nunmehr gesondert als Gewinne aus der Veräußerung von Kapitalanlagen nach § 20 Abs. 2 EStG auswies.

Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 11.4.2013 zurück. Zur Begründung führte er aus, dass die Stückzinsen vor der Systemänderung zum 1.1.2009 steuerpflichtig gewesen seien und es auch hiernach dabei bleiben sollte. Durch die Einführung der Abgeltungssteuer habe sich hieran nichts geändert; Stückzinsen sollten ab dem 1.1.2009 nunmehr als Veräußerungsgewinne gemäß § 20 Abs. 2 EStG n. F. erfasst werden. § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG sei in Bezug auf vor dem 1.1.2009 erworbene Anleihen, deren Stückzinsen im Jahr 2009 zufließen, zwar nicht eindeutig. Die Norm müsse aber im Licht der Gesamtkonzeption der Neugestaltung der Besteuerung von Kapitalvermögen auslegt werden. Tue man dies, so komme nur eine Auslegung dahin gehend in Betracht, dass die Übergangsregelung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG nur solche Einnahmen auch nach dem 1.1.2009 für nicht steuerbar erklärt, die aus vor dem 1.1.2009 erworbenen Kapitalanlagen herrühren und die im Falle eines Zuflusses vor dem 1.1.2009 nach alter Rechtslage nicht steuerbar gewesen wären. Dies sei die Intention des Gesetzgebers gewesen; dieser habe die nach alter Rechtslage steuerbaren Stückzinsen nicht aus der Besteuerung ausklammern wollen. Die Neuformulierung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG mit dem JStG 2010 habe dies nur klargestellt; sie habe die Rechtslage nicht konstitutiv geändert, weshalb auch von einer Rückwirkung keine Rede sein könne.

Die Klägerin erhob mit am 10.5.2013 beim Finanzgericht eingegangenem Schriftsatz Klage. Die Klagebegründung entspricht in Bezug auf die einfach-rechtlichen Fragen den Rechtsausführungen, die bereits im Einspruchsverfahren vorgebracht worden sind. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ergänzt die Klägerin ihre Rechtsausführungen durch den Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.12.2013, 1 BvL 5/08. Nach Maßgabe dieser Entscheidung liege eine unzulässige sog. „echte Rückwirkung“ vor, da die Rechtslage konstitutiv geändert und nicht lediglich klargestellt worden sei.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid für 2009 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen vom 30.5.2011 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.4.2013 insoweit aufzuheben, als dass im Jahr 2009 vereinnahmte Stückzinsen in Höhe von EUR xx als steuerpflichtige Einnahmen ausgewiesen werden,

hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

hilfsweise für den Unterliegensfall, die Revision zuzulassen.

Er verweist auf seine Rechtsausführungen aus der Einspruchsentscheidung.

Aus den Gründen

16        I.

17        Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Feststellungsbescheid ist rechtmäßig. Die im Jahr 2009 vereinnahmten Stückzinsen aus den vor dem 1.1.2009 erworbenen Kapitalforderungen sind steuerbar.

18        1.

19        Die Steuerbarkeit ergibt sich aus § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG. Nach dieser Norm gehört zu den Einkünften aus Kapitalvermögen auch der Gewinn aus der Veräußerung von sonstigen Kapitalforderungen jeder Art im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG und damit erfasst dieser Tatbestand u.a. vereinnahmte Stückzinsen, die als Entgelt für die auf den Zeitraum bis zur Veräußerung der Kapitalforderung entfallenden Zinsen bezahlt und dem Erwerber besonders in Rechnung gestellt werden (statt vieler Ratschow, in: Blümich, § 20 Rn. 380).

20        2.

21        Die Nichtsteuerbarkeit der Stückzinsen kann sich allenfalls aus der Übergangsregelung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in ihrer ursprünglichen (Unternehmensteuerreformgesetz 2008 vom 14.8.2007, BGBl. I 2007, S. 1912) und im hier entscheidenden Punkt auch durch das Jahressteuergesetz 2009 vom 19.12.2008 (BGBl. I 2008, S. 2794) insoweit nicht beeinflussten Fassung ergeben. Die Norm muss im Zusammenhang mit ihrem Satz 6 gesehen werden, wonach die – hier grundsätzlich die Steuerbarkeit der Stückzinsen begründende (s. oben 1.) – Vorschrift des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG erstmals auf nach dem 31. Dezember 2008 zufließende Kapitalerträge aus der Veräußerung sonstiger Kapitalforderungen anzuwenden ist. Hieran anknüpfend heißt es sodann in Satz 7 als Ausnahme zu Satz 6:

22        „Für Kapitalerträge aus Kapitalforderungen, die zum Zeitpunkt des vor dem 01. Januar 2009 erfolgten Erwerbs zwar Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 7 in der am 31.Dezemer 2008 anzuwendenden Fassung, aber nicht Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nummer 4 in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung sind, ist § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG nicht anzuwenden.“

23        Bei den hier streitigen Stückzinsen handelt es sich zwar um Kapitalerträge aus Kapitalforderungen, die vor dem 1.1.2009 angeschafft wurden, und für die § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG gilt. Die Norm ist aber gleichwohl nicht einschlägig. Sie gilt entgegen ihrem Wortlaut nicht für Stückzinsen, die auch bereits unter der alten Rechtslage nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG a. F. steuerbar waren. Da die streitgegenständlichen Stückzinsen unter der alten Rechtslage nach dieser Norm steuerbar waren, kommt die Anwendung der Übergangsvorschrift daher nicht zur Anwendung; es bleibt bei der Steuerbarkeit nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n. F. Dieses Ergebnis wird allerdings nicht von einer Auslegung der Norm getragen (dazu a.); es bedarf vielmehr im Wege der Rechtsfortbildung einer teleologischen Reduktion des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG (dazu b.).

24        a.

25        Eine Auslegung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG dahin gehend, dass Stückzinsen von dieser Norm nicht erfasst werden, scheidet aus.

26        aa.

27        Der Klägerin ist zuzugeben, dass der Wortlaut der Norm nur zwei Voraussetzungen für die Nichtsteuerbarkeit (ausdrücklich) nennt: (1) Es muss sich um Kapitalerträge aus Kapitalforderungen im Sinne von § 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG handeln, die der Steuerpflichtige noch vor dem 1.1.2009 erworben hatte und die (2) keine Kapitalforderungen im Sinne des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nummer 4 in der am 31. Dezember 2008 anzuwendenden Fassung sind. Diese beiden Voraussetzungen sind durchaus erfüllt, was eine Nichtsteuerbarkeit nahelegen könnte. In diesem Sinne wird die Norm in der Literatur zum Teil auch verstanden (vgl. Buge, in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG, § 20 Rn. 513; Haisch/Krampe, FR 2010, 311, 318; Paukstadt/Kerpf, DStR 2010, 678, 679).

28        bb.

29        Die Auslegung unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, der Gesamtkonzeption der Neuregelung und dem Wesen einer Übergangsvorschrift spricht indes für ein anderes Auslegungsergebnis, nämlich der uneingeschränkten Steuerbarkeit von Stückzinsen ungeachtet des Anschaffungs- und Zuflusszeitpunktes:

30        (1) Für diese Auslegung spricht zuerst die Entstehungsgeschichte des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG. Der 2. Senat des Finanzgerichts Münster (Gerichtsbescheid vom 2.8.2012, 2 K 3644/10, EFG 2012, 2284) hat unter Rückgriff auf die Gesetzgebungsmaterialien überzeugend begründet, dass es dem Willen des Gesetzgebers entsprach, Stückzinsen nicht von der Besteuerung auszunehmen und dies ungeachtet der Frage, wann die veräußerte Kapitalforderung erworben worden ist. Der Gesetzgeber wollte die bislang steuerfreien Kursgewinne aus vor dem 1.1.2009 erworbenen Kapitalforderungen auch weiterhin steuerfrei stellen. § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG ist also eine Übergangsvorschrift, die nur sicherstellen will, dass Vorgänge, die bis zum 31.12.2008 nicht steuerbar waren, es nicht allein deshalb werden, weil sie nach dem 31.12.2008 verwirklicht werden. Betrachtet man die Gesetzgebungsmaterialien, so ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber auch die schon vor der Neuregelung steuerbaren Stückzinsen ebenfalls von der Besteuerung ausnehmen wollte (vgl. BT-Drs. 16/5491, S. 21). Nach Ansicht des erkennenden Senats kann dem „Schweigen des Gesetzgebers“ in Bezug auf die Stückzinsen entnommen werden, dass er hinsichtlich deren Besteuerung keine Änderung hat vornehmen wollen.

31        (2) Diese Auslegung entspricht auch der Gesamtkonzeption der Neuregelung zur Besteuerung von Kapitalvermögen. Würde man § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in dem von der Klägerin bevorzugten Sinne verstehen, so würde es zu einem teleologischen Widerspruch mit der Gesamtkonzeption kommen: Mit dem Unternehmenssteuerreformgesetz 2008 verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, Veräußerungsgewinne umfassend als Einkünfte aus Kapitalvermögen zu erfassen. Es ging um eine Erweiterung der Steuerbarkeit. Gemessen hieran ist es sinnwidrig, wenn Stückzinsen, die Erlös für mitveräußerte Zinsansprüche sind und bereits nach § 20 Abs. 2 Nr. 3 EStG a. F. vor dem 31.12.2008 steuerbar waren und auch weiterhin steuerbar sein sollen, in einer bestimmten Konstellation (Erwerb der Kapitalanlage vor dem 1.1.2009, Zufluss der Stückzinsen nach dem 31.12.2008) ausnahmsweise nicht (mehr) steuerbar wären. Ein solcher teleologischer Widerspruch ist innerhalb einer Rechtsordnung zwar nicht ausgeschlossen, ist aber – soweit möglich – im Rahmen der Normauslegung zu vermeiden. Dies gilt umso mehr, wenn sich überhaupt kein sachlicher Grund für den Normwiderspruch finden lässt. So verhält es sich hier: Es ist weder vom Gesetzgeber irgendwie dokumentiert, dass er – entgegen der alten Rechtslage und im Widerspruch zur Neuregelung – Stückzinsen in der hier interessierenden Konstellation von der Besteuerung ausnehmen wollte (s. o. aa]), noch ist auch losgelöst vom Willen des Gesetzgebers auch nur ansatzweise ein Grund denkbar, warum man dies gewollt haben könnte. Bei dieser Sachlage ist es die Aufgabe des Norminterpreten, das Gesetz so auszulegen, dass der teleologische Widerspruch vermieden wird.

32        (3) Schließlich spricht für diese Auslegung auch die systematische Stellung des § 52a Abs. 10 EStG und seine Bedeutung im Rahmen einer Gesetzesänderung: Die Norm stellt eine Übergangsvorschrift dar. Es liegt im Wesen einer Übergangsvorschrift, dass sie die alte Rechtslage mit der neuen harmonisiert, sie also aufeinander abstimmt. Es ist einer Übergangsvorschrift fremd, eine konstitutive Entscheidung zu treffen, die sich weder mit der alten Rechtslage erklären noch sich in die neue Rechtslage einfügen lässt. Dies würde aber – das haben die vorstehenden Überlegungen bereits eingehend gezeigt – geschehen, wenn man § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in dem von der Klägerin bevorzugtem Sinne verstehen würde; die Klägerin gibt der Norm letztlich eine normative Aussage, die einer Übergangsvorschrift typischerweise fremd ist.

33        (4) Allerdings ist zu konstatieren, dass weder der Wortlaut des (ursprünglichen) § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG selbst noch ein anderer Satz der Übergangsvorschrift des § 52a Abs. 10 EStG, in den diese auf § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG zugeschnittene Regelung eingebettet ist, den Willen des Gesetzgeber widerspiegeln. Die Norm enthält – worauf bereits eingangs unter (1) hingewiesen wurde – nur zwei Voraussetzungen für die hier von der Klägerin begehrte Nichtsteuerbarkeit. Beide sind im vorliegenden Fall erfüllt. Dies führt zu der Frage, ob der Wortlaut des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG einer den vorgenannten entstehungsgeschichtlichen, teleologischen und systematischen Argumenten Rechnung tragenden Auslegung überhaupt zugänglich ist. Denn der Wortlaut markiert die Grenze der Auslegung.

34        Der 2. Senat des Finanzgerichts Münster sieht in dem Wortlaut des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG kein Hindernis für eine Auslegung dahin gehend, dass Stückzinsen im Zusammenhang mit der Veräußerung von vor dem 1.1.2009 erworbenen Kapitalforderungen bei Zufluss nach dem 31.12.2008 nicht von § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in der Fassung des JStG 2009 erfasst werden. Der erkennende Senat teilt diese Ansicht nicht. Die vom 2. Senat des Finanzgericht Münster geübte Auslegung basiert letztlich auf der Annahme, dass der Wortlaut des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG nicht abschließend ist und der Richter deshalb nicht gehindert ist, (bereits) im Wege der Auslegung ein weiteres (einschränkendes) Tatbestandsmerkmal in die Norm hineinzulesen. Dies führt allerdings zwangsläufig zu der Frage, welche Grenzziehungskraft ein Wortlaut dann noch haben kann. Die Behauptung, der Wortlaut sei nicht abschließend, lässt sich im Grunde immer aufstellen. Nach Ansicht des erkennenden Senats bewegt sich daher das „Hinzufügen“ ungeschriebener, einschränkender Tatbestandsmerkmale wie im Streitfall jenseits der Auslegung. Der Sache nach geht es bereits um Rechtsfortbildung.

35        b.

36        Nach Ansicht des erkennenden Senats ist § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG jedoch teleologisch dahin gehend zu reduzieren, dass er nicht für Stückzinsen gilt.

37        aa.

38        Die teleologische Reduktion ist darauf gerichtet, das Gesetz hinter seinen Wortlaut zurückzunehmen: Der zu weite Wortlaut des Gesetzes wird auf dessen engeren Zweck reduziert. Allein rechtspolitische Fehler legitimieren die Gerichte freilich nicht zu einer Erweiterung oder Verengung des Wortlautes. Notwendig ist vielmehr das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Ihre Ausfüllung geschieht sodann durch Hinzufügung der nach dem Telos der Norm sinngemäß geforderten Einschränkung (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1992, S. 391).

39        Die hiernach erforderliche Divergenz zwischen dem Gesetzeswortlaut und dem Gesetzeszweck ist bereits unter a. begründet worden: Da § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in seiner Ursprungsfassung keine Ausnahme für Stückzinsen enthält, kommt es zu einem Widerspruch mit der Gesamtkonzeption der Besteuerung von Stückzinsen. Vor dem 1.1.2009 vereinnahmte Stückzinsen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers ebenso steuerbar sein wie nach dem 31.12.2008 vereinnahmte Stückzinsen; geändert hat sich lediglich die normative Verortung der Steuerbarkeit, nämlich durch den Wechsel von § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 EStG in die Nr. 7. Die dem § 20 Abs. 2 EStG immanente Teleologie ist die Steuerbarkeit von Stückzinsen. Gemessen hieran ist es – wie bereits unter a. ausgeführt – sinnwidrig, wenn Stückzinsen, die Erlös für mitveräußerte Zinsansprüche sind und bereits nach § 20 Abs. 2 Nr. 3 EStG a. F. vor dem 31.12.2008 steuerbar waren und auch weiterhin steuerbar sein sollen, in einer bestimmten Konstellation (Erwerb der Kapitalanlage vor dem 1.1.2009, Zufluss der Stückzinsen nach dem 31.12.2008) ausnahmsweise nicht (mehr) steuerbar sind. Der Gesetzgeber hat den normativen Wechsel der Stückzinsen von Nr. 3 zu Nr. 7 bei der Abfassung der Übergangsregelung offensichtlich nicht bedacht. Von seiner Regelungsabsicht her gesehen – wie sie im Vergleich der alten und neuen Rechtslage ihren Ausdruck findet – liegt deshalb eine verdeckte Lücke des Gesetzes vor.

40        Diese Lücke ist dadurch zu schließen, dass Satz 7 nicht auf Stückzinsen anzuwenden ist. Damit ergibt sich eine durchgehende Besteuerung von Stückzinsen entsprechend der (Gesamt-) Regelungsabsicht des Gesetzgebers. Dies hat zur Folge, dass die von der Klägerin vereinnahmten Stückzinsen nicht nach § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG erfasst werden und vielmehr nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG steuerbar bleiben.

41        bb.

42        Der erkennende Senat sieht sich in der vorliegenden Konstellation nicht durch die Verfassung an der teleologischen Reduktion des § 52 Abs. 10 Satz 7 EStG gehindert.

43        (1) Die vom erkennenden Senat für zutreffend erachtete Rechtsfortbildung ist nicht nur eine methodische, sondern auch eine verfassungsrechtliche Frage. Rechtsfortbildung muss am Vorbehalt des Gesetzes und dem rechtsstaatlichen Gebot hinreichender Klarheit und Eindeutigkeit von Eingriffsnormen gemessen werden. Das Steuerrecht ist durch das Diktum des Gesetzgebers geprägt; ihm allein ist die Entscheidung anvertraut, auf der abstrakt-generellen Ebene über die Steuerwürdigkeit eines Lebenssachverhaltes zu befinden. Zum Teil wird dies so eng verstanden, dass der Richter gehindert sei, im Wege der Rechtsfortbildung über den möglichen Wortsinn hinaus neue Steuertatbestände zu schaffen. Legt man diese Ansicht zugrunde, ist die vom erkennenden Senat befürwortete teleologische Reduktion problematisch. Denn es macht – jedenfalls auf den ersten Blick – keinen Unterschied, ob ein Steuertatbestand durch Analogie ausgeweitet wird oder ob eine Nichtsteuerbarkeitsanordnung durch eine teleologische Reduktion in ihrem Anwendungsbereich so verengt wird, dass ein Sachverhalt entgegen ihrem Wortlaut doch steuerbar ist. Zum Teil wird ein steuerbegründendes Analogieverbot aber auch abgelehnt (der Streitstand wird mit umfangreichen Nachweisen von Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 4 Rn. 360 f. und Schenke, Die Rechtsfindung im Steuerrecht, 2007, S. 201 ff., insbesondere S. 229 ff. nachgezeichnet; hierauf wird verwiesen).

44        (2) Nach Ansicht des erkennenden Senats ist die teleologische Reduktion des § 52 Abs. 10 Satz 7 EStG verfassungsrechtlich zulässig.

45        (a) Zum einen wird dem Vorbehalt des Gesetzes genügt. Entscheidend ist, ob der Gesetzgeber auch das im Wege der Rechtsfortbildung bewirkte Ergebnis vorgesteuert hat (siehe unabhängig vom Steuerrecht Schmidt, VerwArch 97 [2006], S. 139, 155 ff.). Die bei dem Steuerpflichtigen eintretende Belastungswirkung muss sich also auf eine Steuerwürdigkeitsentscheidung des Gesetzgebers zurückführen lassen. Dieser Anforderung kann nach Ansicht des erkennenden Senats auch durch eine rechtsmethodisch zulässige teleologische Reduktion genügt werden; entscheidend ist, dass das gewonnene Ergebnis auf eine Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers zurückgeführt werden kann (vgl. BFH v. 20.10.1983, IV R 175/79, BStBl. II 1984, 221, 224; BVerwG v. 3.4.1996, 6 C 5/94, BVerwGE 101, 51, 54 f.; Hessisches FG v. 9.12.2004, 4 K 3876/01, EFG 2006, 1206). Nimmt man das Erfordernis parlamentarischer Vorsteuerung der Belastungsentscheidung ernst, wird verständlich, warum gemessen an dieser Vorgabe in vielen Fällen insbesondere eine steuerbegründende Analogie nicht in Betracht kommt: Es ist die Abhängigkeit von der konstitutiven Besteuerungsentscheidung des Gesetzgebers; es gibt eben keinen Sachverhalt, der seiner Natur nach besteuert werden muss. Aus diesem Mangel an Sachgesetzlichkeiten folgt konsequenterweise dann nicht nur die Notwendigkeit einer primären Entscheidung des Gesetzgebers über die Steuerwürdigkeit eines Sachverhaltes, sondern natürlich auch die weitgehende Unzulässigkeit einer steuerbegründenden Analogie (eingehend Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 4 Rn. 362, dort auch mit weiteren Nachweisen).

46        Dort, wo sich im Regelungszusammenhang Sachgesetzlichkeiten nachweisen lassen, scheidet eine Rechtsfortbildung hingegen nicht von vornherein aus. Dementsprechend wird beispielsweise zu Recht darauf hingewiesen, dass insbesondere die Steuerausgestaltung einer Sachgesetzlichkeit folgen kann, die im Rahmen der Rechtsfortbildung vom Richter zu Ende gedacht werden kann und muss (auch insoweit statt vieler Drüen, in: Tipke/Kruse, AO, § 4 Rn. 362a mit weiteren Nachweisen; im Ergebnis z. B. auch BFH v. 15.4.2010, IV R 5/08, BStBl. II 2010, 912, 916 für eine bejahte, die Gewerbesteueranrechnung einschränkende teleologische Reduktion des § 35 EStG). Im Streitfall ist der Sache nach zwar die Steuerwürdigkeitsebene betroffen, aber auch hier kann es ausreichende Sachgesetzlichkeiten geben, die das Ergebnis der Rechtsfortbildung auf die bereits vom Gesetzgeber getroffene Steuerwürdigkeitsentscheidung zurückführen lassen. Dies gilt insbesondere bei Übergangsregelungen, die ihrer Natur nach einer spezifischen Sachgesetzlichkeit folgen. Die Ausführungen zur Planwidrigkeit der verdeckten Lücke haben dies anschaulich gezeigt. Insbesondere lässt sich nachweisen, dass eine im Grunde nicht relativierbare Grundentscheidung des Gesetzgebers für die Besteuerung von Stückzinsen existiert. Wenn der erkennende Senat diese sowohl für die alte als auch die neue Rechtslage nachweisbare Steuerwürdigkeitsentscheidung auch für den Übergangsfall zu Ende denkt, missachtet er gerade nicht durch eine „eigene, richterliche Steuerwürdigkeitsentscheidung“ das Primat des parlamentarischen Gesetzgebers, sondern verwirklicht nur dessen Steuerwürdigkeitsentscheidung auch in der Übergangskonstellation.

47        (b) Zum anderen bürdet die teleologische Reduktion der Klägerin auch nicht ein Rechtsanwendungsrisiko auf, das verfassungsrechtlich nicht mehr tragbar ist. Angesprochen ist hiermit vor allem das Bestimmtheitsgebot, das (auch) eine ausreichende Vorhersehbarkeit des Rechtsanwendungsergebnisses für den Steuerpflichtigen gewährleisten soll. Dieser Gesichtspunkt ist anlässlich der Rechtsfortbildung berührt, weil der Wortlaut des Gesetzes seine Orientierungskraft einbüßt. Wenn es jedoch – wie hier im Streitfall – eine Sachgesetzlichkeit gibt, die unter Anwendung der allgemeinen juristischen Methodik ermittelbar ist, dann stellt die Rechtsfortbildung die Orientierungskraft des Gesetzes genauso wenig in Frage wie dies auch eine teleologische Auslegung innerhalb der möglichen Wortsinngrenzen tut. Dies gilt insbesondere in einer Konstellation wie der hier im Streit stehenden: Das vom Wortlaut vermittelte Auslegungsergebnis ist unter Berücksichtigung der alten und der neuen Rechtslage derart widersinnig, dass eine Rechtsfortbildung von jedem Rechtsgenossen bei verständiger Würdigung jedenfalls als mögliche Lösung von Anfang an einzustellen war.

48        (c) Nach alledem ist eine teleologische Reduktion des § 52 Abs. 10 Satz 7 EStG nicht nur methodisch möglich und geboten, sondern auch verfassungsrechtlich zulässig. Nach Ansicht des erkennenden Senats kann auch der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss) vom 14.8.1996, 2 BvR 2088/93, NJW 1996, 3146 nichts Gegenteiliges entnommen werden. Zwar wird dort eine Analogie zu Lasten des Bürgers mit dem Hinweis auf den Vorbehalt des Gesetzes und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung für verfassungswidrig erachtet. Betrachtet man jedoch den Fall, der Anlass zu dieser abstrakten Aussage gegeben hat, dann fällt auf, dass die vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Analogie zu einem Ergebnis geführt hatte, das gerade nicht vom Gesetzgeber vorgesteuert war, sondern dem abschließenden Charakter der dort analog angewendeten Norm widersprach. Im Grunde fehlte es methodisch an einer Lücke; verfassungsrechtlich konnte die Analogie damit auch nicht auf den Gesetzgeber zurückgeführt werden. Deshalb lässt sich die Entscheidung nur schwer verallgemeinern; sie lässt sich jedenfalls nicht auf den hiesigen Fall übertragen.

49        c.

50        Nach alledem muss § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG (bereits) in der Fassung des JStG 2009 dahin gehend verstanden werden, dass er nicht für Stückzinsen gilt. Bei diesem Verständnis scheidet die von der Klägerin begehrte Nichtsteuerbarkeit aus.

51        3.

52        Ungeachtet der Ausführungen zu 2. ergibt sich die Steuerbarkeit der streitgegenständlichen Stückzinsen zumindest aus der mit dem JStG 2010 erfolgten Ergänzung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG.

53        a.

54        Mit dem Jahressteuergesetz 2010 vom 8.12.2010 (BGBl. I 2010, 1768) wurde § 52a Abs. 10 Satz 7 um folgenden Nachsatz ergänzt: „für die bei der Veräußerung in Rechnung gestellten Stückzinsen ist Satz 6 anzuwenden“. Die Anwendungsregelung des Satz 6 gilt mangels anderslautender Anwendungsregelung somit für alle offenen Fälle (dies entspricht auch der mit der Gesetzesergänzung verfolgten Intention des Gesetzgebers, s. BT-Drucks. 17/2249, S. 64). Der Gesetzgeber hat mithin rückwirkend die Nichtanwendung des Satzes 7 für Stückzinsen bewirkt. Auch für Anschaffungsvorgänge vor dem 31.12.2008 gilt hinsichtlich der Stückzinsen daher, dass es für die Anwendung des § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 EStG n. F. allein auf den Zufluss nach dem 31.12.2008 ankommt. So verhält es sich im vorliegenden Fall.

55        b.

56        Die rückwirkende Ergänzung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG ist verfassungsrechtlich zulässig gewesen. Dem Kläger ist zwar durchaus zuzugeben, dass es sich um eine echte Rückwirkung handelt. Diese ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

57        aa.

58        Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Denn die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen (BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 520). Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens nachträglich belastend ändert, bedarf dies daher einer besonderen Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten. Für die sog. echte Rückwirkung, wenn also die bereits eingetretene Rechtsfolge eines bereits abgeschlossenen Lebenssachverhaltes rückwirkend verändert wird, nimmt das Bundesverfassungsgericht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis an: Gesetze mit echter Rückwirkung sind grundsätzlich nicht mit der Verfassung vereinbar. Allerdings sind Ausnahmen von diesem Grundsatz anerkannt. Denn das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze. Es gilt dementsprechend nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war, ist daher von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen (BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 520 mit umfangreichen Nachweisen aus der eigenen Rechtsprechung).

59        Diese Rechtsprechung zur echten Rückwirkung ist im Streitfall maßgeblich. Denn das JStG 2010 hat in den bereits abgeschlossenen Veranlagungszeitraum 2009 eingegriffen. Ohne Bedeutung ist dabei auch, dass der Gesetzgeber lediglich eine „Klarstellung“ für sich in Anspruch genommen hat. Jedenfalls das Bundesverfassungsgericht begründet in einem solchen Fall den konstitutiven Charakter der Rückwirkung allein damit, dass die vormalige Rechtslage mehrere Auslegungsmöglichkeiten zuließ. Dies soll selbst dann gelten, wenn es noch kein höchstrichterliches Judikat gibt, das sich mit der Auslegungsfrage beschäftigt hat. Auch in einer solchen Situation, in welcher der Auslegungsdiskurs noch vollkommen offen ist, soll der Gesetzgeber die Rechtslage rückwirkend verändern, wenn er eine Auslegungsmöglichkeit verbindlich festschreibt (BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 520). Letztlich darf die Kategorisierung klarstellend/konstitutiv und damit verbunden unecht/echt allerdings auch nicht überbetont werden. Es geht stets um einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Vertrauens- und Dispositionsschutzinteresse des Steuerpflichtigen und dem mit der Rückwirkung verfolgten Gemeinwohlinteresse in der jeweils konkret betroffenen Konstellation (dazu nachfolgend bb.); dies zeigt die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur unechten Rückwirkung ungeachtet des Festhaltens an der Kategorisierung echt/unecht anschaulich (siehe nur BVerfG v. 7.7.2010, 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1; v. 7.7.2010, 2 BvL 1/03, BVerfGE 127, 31; v. 7.7.2010, 2 BvR 748/05 u. a., BVerfGE 127, 61).

60        bb.

61        Die verfassungsrechtliche Rechtfertigung einer Rückwirkung setzt nach dem Vorgesagten mithin voraus, dass sie zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt. Beachtenswert ist dabei vor allem, dass nach der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein legitimierendes Änderungsinteresse erforderlich ist, das über das allgemeine Interesse an der Änderung hinausgeht (BVerfG v. 7.7.2010, 2 BvL 14/02, BVerfGE 127, 1, 20). Will der Gesetzgeber gegen das Vertrauensinteresse des Steuerpflichtigen antreten, so muss er grundsätzlich eine besondere Rückwirkungsdringlichkeit begründen können.

62        (1) Zweck der rückwirkenden Ergänzung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG war die Beseitigung eines Systembruchs in einer bestimmten Fallkonstellation, nämlich einer allein durch die besondere zeitliche Konstellation (Erwerb des Wertpapiers vor dem 1.1.2009 und Vereinnahmung von Stückzinsen nach dem 31.12.2008) drohenden Nichtbesteuerung von Stückzinsen. Insoweit stehen auch die Geeignetheit und Erforderlichkeit des rückwirkend auf alle offenen Fälle anwendbaren § 52a Abs. 10 Satz 7 Halbsatz 2 EStG nicht in Frage; die Neuregelung hat die aus Sicht des Gesetzgebers offene Auslegungs- und Rechtsfortbildungsfrage normativ im Sinne einer Besteuerung beantwortet.

63        (2) Hierdurch ist zwar das Vertrauen der Steuerpflichtigen insoweit enttäuscht worden, dass sie nicht mehr auf eine ihnen günstige Auslegung bzw. die Verneinung einer die Besteuerung begründenden Rechtsfortbildung hoffen konnten. Dieses Vertrauen durfte der Gesetzgeber jedoch zurücktreten lassen. Anlässlich der Abwägungskontrolle sind dabei zwei Aspekte entscheidend:

64        (a) Der Gesetzgeber durfte von einer Rückwirkungsdringlichkeit im Sinne der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgehen.

65        Dass der Gesetzgeber einen selbst verursachten Fehler der Vergangenheit beseitigt, steht der Anerkennung des Rückwirkungsinteresses nicht entgegen. Vielmehr muss der jeweilige Anwendungsfall betrachtet werden. Insoweit ist auch hier die Differenzierung leitend, die bereits anlässlich der Rechtsfortbildung aufgezeigt wurde: Auf der einen Seite existieren die Fälle, in denen der Gesetzgeber rückwirkend eine neue Belastungsgrundentscheidung trifft, er also rückwirkend eine Rechtslage ändert, die ihn rechtspolitisch reut. Insoweit ist ein Rückwirkungsinteresse grundsätzlich nicht anzuerkennen. Auf der anderen Seite stehen die Fälle, in denen der Gesetzgeber nachvollziehbar nur einen Systembruch entsprechend der bereits im Gesetz angelegten Belastungsentscheidung behebt. In dieser Fallgruppe kann dem gesetzgeberischen Rückwirkungsinteresse die Legitimität und vor allem auch die hohe Gewichtigkeit, die notwendig ist, um im Rahmen der Abwägung überhaupt ernsthaft gegen das Vertrauensschutzinteresse des Steuerpflichtigen ins Feld geführt zu werden, nicht per se abgesprochen werden. Umgekehrt existiert aber auch kein Automatismus. Es sind auch Wertungswidersprüche denkbar, die für die Vergangenheit hingenommen werden können.

66        Im Streitfall ist das Reparaturinteresse des Gesetzgebers anzuerkennen; es kann vor allem auch mit dem notwendigen Gewicht in die Abwägung eingestellt werden. Denn es geht um eine grundsätzliche Steuerbarkeitsfrage und dies als Teil eines erheblichen Systembruchs (s. o.). Gerade wegen der offen zu Tage tretenden Zufälligkeit eines (systemwidrigen) „steuerlichen Übergangsvorteils“ war die alte Rechtslage auch geeignet, die Einsichtigkeit der Steuerpflichtigen in die getroffene Belastungsentscheidung zu gefährden. Dabei ist zu beachten, dass der nunmehr beseitigte Systembruch selbst wiederum die Qualität einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung hatte; auch dies prägt die Gewichtigkeit des spezifischen Rückwirkungsinteresses.

67        (b) Der Steuerpflichtige wiederum kann in Bezug auf die alte Rechtslage kein schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen.

68        Allerdings muss auch insoweit ein Regel-Ausnahme-Verhältnis beachtet werden: Allein die Auslegungsbedürftigkeit eines Gesetzes steht der Bildung schutzwürdigen Vertrauens in die Rechtsordnung nicht entgegen. Dies gilt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch während der ersten Jahre bis zu einer höchstrichterlichen Verengung der Auslegungsfrage auf ein für die Rechtspraxis Orientierung bietendes Präjudiz (BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 520). Je deutungsoffener der Normbefund ist, umso weniger kann er dann allerdings selbst noch unmittelbare Vertrauensgrundlage sein. Geschützt wird dann vielmehr das Vertrauen in die Chance einer für den Betreffenden günstigen Rechtsprechung (treffend Masing in seinem Sondervotum zu BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 52) bzw. geschützt wird ein „Vertrauensschutzbereich“, der bis zu einer Verengung durch eine höchstrichterliche Rechtsprechung jede unter Anwendung anerkannter Auslegungsregeln gewonnene Auslegung umfasst (Hey, JZ 2014, 500, 503).

68        Dieser Grundsatz kennt indes zu Recht auch Ausnahmen. In Abgrenzung zur „gewöhnlichen“ Auslegungsbedürftigkeit verlangt das Bundesverfassungsgericht „zusätzliche qualifizierte Umstände, die das geltende Recht so verworren erscheinen lassen, dass es keine Grundlage für einen verfassungsrechtlich gesicherten Vertrauensschutz mehr bilden kann“ (BVerfG v. 17.12.2013, 1 BvL 5/08, DStR 2014, 52 Rn. 72). Eine solche Verworrenheit soll insbesondere dann vorliegen, „wenn auch unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik und Normzweck völlig unverständlich ist, welche Bedeutung die fragliche Norm haben soll“ (BVerfG v. 17.12.2013, a. a. O.). Diese Fallgruppe trifft den vorliegenden Fall freilich nicht direkt. Insbesondere kann nicht von einer verworrenen Rechtslage gesprochen werden. Denn den maßgeblichen Orientierungspunkt bildet immer noch der Wortlaut; hierin gründet gerade die These, dass in ihm die Auslegung ihre Grenze findet. Der erkennende Senat hat unter 2. b. daher auch erst mittels einer den Wortlaut überwindenden Rechtsfortbildung den Willen des Gesetzgebers verwirklicht.

70        Der erkennende Senat versteht das Bundesverfassungsgericht indes nicht so, dass es jenseits der durch einen missverständlichen Wortlaut geprägten „Unverständlichkeitsfallgruppe“ keine weiteren Konstellationen geben kann, in denen der Normbestand wegen einer ihm anhaftenden Widersprüchlichkeit kein Vertrauen begründen kann. Das Bundesverfassungsgericht spricht selbst von „insbesondere“ (s. o.). Mit der unklaren und verworrenen Rechtslage wertungsmäßig vergleichbar kann der Normbestand nach Ansicht des erkennenden Senats daher auch dann kein schutzwürdiges Vertrauen vermitteln, wenn für einen verständigen Steuerpflichtigen (objektiv) erkennbar war, dass dem Gesetzgeber ein legislativ nicht hinnehmbarer Fehler unterlaufen ist und eine Korrektur zu erwarten stand. Da allerdings grundsätzlich der Staat die Nachteile und Risiken unvollkommener Gesetzgebung zu tragen hat und nicht der Bürger (vgl. Schön, in: Festschrift für Joachim Lang, 2010, S. 221, 228), muss es sich um eindeutige Fälle handeln. Die notwendige Eindeutigkeit ist jedenfalls dann erreicht, wenn (erstens) an der Fehlerhaftigkeit (gemessen am Regelungssystem) und auch dem Versehen bei Anlegung eines objektiven Maßstabes kein ernsthafter Zweifel bestehen kann und (zweitens) der Fehler eine solche Qualität aufweist, dass seine Behebung mit aller Wahrscheinlichkeit zu erwarten steht. Genauso verhielt es sich mit § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in seiner Ursprungsfassung. Das vom Wortlaut vermittelte Auslegungsergebnis ist unter Berücksichtigung der alten und der neuen Rechtslage derart widersinnig, dass es kein schutzwürdiges Vertrauen in die Nichtsteuerbarkeit geben konnte. Der von § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG bewirkte Vorteil musste bei verständiger Würdigung als zufälliger, willkürlicher Übergangsgewinn erscheinen. Dieser Nichtsteuerbarkeitsvorteil in einer bestimmten, sachlich nicht erklärbaren Konstellation ist dabei von einer solchen – sowohl einfach-rechtlich teleologischen als auch gleichheitsrechtlichen – Qualität, dass ein Steuerpflichtiger nicht erwarten konnte, dass der Gesetzgeber diesen Fehler für die Vergangenheit akzeptiert, geschweige denn akzeptieren durfte. Angesichts dessen kommt es auch nicht darauf an, ob die Klägerin ihre Wertpapiere bereits im Vorfeld des Jahressteuergesetzes 2008 erworben hatte oder mit Blick auf die Regelung in § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG erst danach (aber vor dem 1.1.2009). Selbst im letztgenannten Fall könnte sie kein schutzwürdiges Vertrauen in Anspruch nehmen.

71        Nach alledem durfte der Gesetzgeber das Rückwirkungsinteresse höher gewichten als das Vertrauensschutzinteresse des Steuerpflichtigen. Die mit der Ergänzung des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG verfolgte Rückwirkung stellt damit einen vertretbaren Ausgleich der widerstreitenden Interessen dar und ist insgesamt verhältnismäßig.

72        II.

73        Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

74        Der Senat lässt die Revision nach § 115 Abs. 2 FGO zu. Die Auslegung bzw. teleologische Reduktion des § 52a Abs. 10 Satz 7 EStG in der Fassung des JStG 2009 und die – falls man der Ansicht des erkennenden Senats nicht folgen sollte – sich dann stellende verfassungsrechtliche Rückwirkungsfrage haben grundsätzliche Bedeutung.

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